Gekürzte Fassung in NZZ, 14.3.2018
Hellhörige Bäume, warnende Erbsen,
wehleidige Tomaten
Wir reden uns
heute den Mund fusselig über künstliche Intelligenz. Aber schauen wir uns doch
einmal im Garten, Park, Wald, in der Mauerritze, am Bachufer, am Strassenrand
um. Wie steht es mit der ganzen vegetativen Intelligenz? Das gängige Bild der
Pflanze zeichnet sie als ortsgebundenes Lebewesen, der Fortbewegung weitenteils
unfähig, eine bewusstlose, dumpfe Existenz fristend. Selbst ein so
natursensibler Philosoph wie Hans Jonas gibt bündig Bescheid: „Drei Merkmale
unterscheiden das tierische vom pflanzlichen Leben, Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmung,
Gefühl.“ Er könnte nicht falscher liegen.
„Hallo!“ - Hört mich die Pflanze?
Pflanzen sind
nicht taub. Das heisst, sie reagieren auf akustische Ereignisse in ihren
Umwelten. Und diese Umwelten sind meist voller Klänge, Stimmen, Geräusche. Man
vergegenwärtige sich nur einen Wald, in dem man zumindest zu gewissen Zeiten
einer wahren Kakophonie ausgesetzt ist. Man könnte also argumentieren, dass die
Evolution von Pflanzen nicht unbeeinflusst von ihren sonoren Umwelten
stattgefunden hat. Nun setzt Hören ein hörendes Subjekt voraus. Ob und wie eine
Pflanze „hören“ kann, verlangt also zuallererst nach verbindlichen Standards
des Hörens. Und solche Standards finden wir selbstverständlich beim Menschen.
Wie aber könnte man diese Redeweise bei der Pflanze plausibel machen?
Die Pflanze am Lügendetektor
Clive
Backster von der CIA, ein Spezialist für Abhören, entwickelte den
Lügendetektor. Kernbestandteil dieses Apparats ist ein Gerät, das den elektrischen
Widerstand der Haut misst. Lügt eine Person, dann schwitzt sie in der Regel ein
wenig, und dadurch sinkt der elektrische Widerstand der Haut. Man kann diese
Schwankungen aufzeichnen. Backster war offenbar ein sehr besorgter Mensch, in
seinen Augen galt es nicht nur Personen abzuhören, sondern auch Pflanzen. Nun
schwitzen Pflanzen nicht, wenn sie lügen, weil sie nicht lügen, aber Wasser
steigt von den Wurzeln in die Blätter. Backster liess sich davon nicht
abbringen, Evidenz für ein Innenleben der Pflanzen zu finden. Könnte man also
eine Pflanze zu „Schwitzen“ bringen, wenn man sie wie eine Person durch eine
Art Lügentest bedroht? Backster klemmte Elektroden für die galvanische
Hautreaktion an das Blatt einer Zimmerpflanze, und begann die Pflanze zu bedrohen;
er schrie sie an, tauchte eines ihrer Blätter in heissen Kaffee, aber der
Lügendetektor zeichnete keinen nennenswerten Ausschlag auf. Erste als Backster
ein Zündholz anzündete und es vor das Blatt mit der Elektrode hielt, schlug der
Detektor wie wild aus. Daraus schloss Backster, dass Pflanzen durchaus
Absichten von andern Lebewesen wahrnehmen. Die Ergebnisse publizierte er 1968
im International Journal of Parapsychology: „Evidenz für eine Primärwahrnehmung
im Leben von Pflanzen.“
Backsters
Versuche werden eher ins Kuriositätenkabinett der Forschung gestellt, aber sie
scheinen eine verborgene Saite im Menschen zum Schwingen zu bringen: quasi
dessen „Seele für die Pflanze“. Seit vier Dekaden, genauer seit der Publikation
des Bestsellers „Das geheime Leben der Pflanzen“ (1974) von Peter Thomkins und
Christopher Bird biegen sich die Regale unter der Last von einschlägigen Titeln
der Pflanzensentimentalität und -esoterik.
Tabakkraut, Erbsen, Tomaten
Pflanzen kommunizieren
durchaus, biochemisch, und dies oft auf raffinierte Weise. Hier drei Beispiele.
Wildes Tabakkraut wehrt sich gegen Räuber mittels einer Überproduktion an Gift
in den Blättern: Nikotin. Den Tabakschwärmerraupen kann allerdings Nikotin nichts
anhaben. Deshalb muss die Tabakpflanze eine andere Strategie „wählen“, um dem
Räuber das Leben schwer zu machen. Statt einer Überproduktion an Nikotin sendet
sie duftende „Hilferufe“, die Feinde der Raupe anziehen; und gleichzeitig
stellt sie Stoffe her, welche die Verdauung der Raupe beeinträchtigen, wodurch
diese geschwächt wird und sich gegen die herbeigerufenen Feinde weniger
effizient wehren kann.
Gewöhnliche
Erbsen, die man der Dürre aussetzte, konnten benachbarte Artgenossen ihre
Stresssituation signalisieren, indem sie über das Wurzelwerk Botenstoffe an sie
schickten. Die so „alarmierten“ Pflanzen wurden dadurch zu einer Reaktion
veranlasst, als stünden sie selber unter dem Dürrestress. Und
interessanterweise vermochten solch alarmierte Pflanzen akuten Dürrebedingungen
besser zu trotzen. Wie wenn sie sich auf zellularär Ebene an die empfangene biochemische
Nachricht zu „erinnern“ vermöchten, um sie dann in einem Akutfall „abzurufen“.
In einem
Experiment liessen Biologen einen Raupenroboter ein Fressmuster ins Blattgewebe
von Tomatenpflanzen stanzen und beobachteten die Reaktion darauf. Sie war
erstaunlich. Die Nachricht von der Fressattacke verbreitet sich sehr schnell
über die ganze Pflanze, bis zu den Wurzeln. Die Tomate setzte hormonähnliche
Substanzen frei, ähnlich zu den schmerzauslösende Gewebehormonen beim Menschen,
die bei Entzündungen in Aktion treten. Man auch schon von „Pflanzenkopfschmerzen“
gesprochen.
Vorsicht mit Analogien
Sobald
man von botanischen Erinnerungen, Warn- und Hilferufen, Schmerzreaktionen und
dergleichen spricht, sind ein paar Gänsefüsschen zu setzen. Denn das Risiko, unter
der Hand irreführende anthropomorphe Analogien in die Sprache über die
Pflanzen einzuschmuggeln, ist gross. Dass Leute mit Hortensien und Begonien auf
Du und Du stehen, ist sattsam bekannt. Als ebenso riskant erscheint allerdings
eine Gegenreaktion von seiten der Wissenschaft, die nun das pflanzliche Leben
auf reine Physiologie oder Biochemie reduziert. Diese Sicht hat eine lange Tradition,
die der Biologe Hans Werner Ingensiep als Geschichte der „Entseelung“ der
Pflanze beschrieben hat – eines Vorgangs, der sich heute in der intensiv
vorangetriebenen Technisierung und Industrialisierung der Pflanze nur allzu
augenfällig fortsetzt. Ironischer- und eher unerwarteter Weise erhält nun dabei
im gleichen Zug, in dem die Biologie die Pflanze entseelt, im Kontext der Artificial
Intelligence der Gedanke Auftrieb, dass Maschinen beseelt
sein können, das heisst, dass als Träger mentaler Vorgänge andere Substrate als
die bekannten Nervensysteme denkbar sind. Was auch als Symptom einer
zeittypischen Obsession für das Künstliche gedeutet werden könnte.
Die Pflanze in
„aufgeklärter“ Sicht
In einem
Vortrag über Moralphilosophie im Jahre 1989 überraschte die britische
Philosophin Philippa Foot ihre Zuhörerschaft mit der Bemerkung, dass es in der
Diskussion um Tugenden und Laster wichtig sei, über Pflanzen nachzudenken. Das
grenzte zumindest in philosophischen Kreisen an Ketzerei, denn Frau Foot
rüttelte damit an den Grundfesten moderner Moralauffassung. So galt schon fast
als kanonisch, dass Ethik und Natur voneinander zu trennen sind. Es gibt – mit
Kant gesprochen – Natur als das Reich der Notwendigkeit und Moral als Reich der
Freiheit. Nur letzteres ist dem Menschen vorbehalten.
Kant gestand
den Pflanzen durchaus eine moralisch erbauliche Funktion zu. Er sprach von der
„Stimmung der Sittlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens
dazu vorbereitet, nämlich auch etwas ohne Absicht auf Nutzen zu lieben z.B. (..)
das unbeschreiblich Schöne des Gewächsreichs“. Aber all dies erfolgt, wie Kant
sagt, „in Ansehung“ von Tier und Pflanze. „In Ansehung“ heisst indes noch nicht
„Tier und Pflanze gegenüber“. Kant ging es letztlich um den Menschen, nicht um
die anderen Lebenwesen. Tier und Pflanze waren ihm quasi Anschauungsmaterial
für moralische Freiübungen.
Bachkresse und Philosoph sind Verkörperungen von
„Seele“
Der Schritt
muss weitergehen, über Kant hinaus, zurück zu Aristoteles. Es gibt das Schmerzempfinden
und Leiden der Tiere; es gibt das Irritiertsein und den Stress der Pflanzen. Gemäss
Aristoteles’ Seelenlehre weist alles Lebende drei Seelenschichten auf: die
vegetative oder Nährseele der Pflanzen, die sensorische oder Empfindungsseele
der Tiere und die rationale oder Denkseele der Menschen. Wir alle, von der
Bachkresse bis zum Philosophen, sind Verkörperungen von „Seele“. Insofern der
Mensch sich ernährt, wächst, sich fortpflanzt, ist er also „Pflanze“. Im Lichte
moderner Forschung ist diese Dreiteilung komplizierter. Es handelt sich beim
Vegetativen, Sensorischen und Rationalen nicht um trennscharfe Schichten,
sondern eher um ein Geflecht von vitalen Funktionen. Aufs Ganze gesehen
zeichnet uns die Pflanzenwissenschaft aber durchaus ein Bild, das in seinen
Grundzügen der aristotelischen „Dreiheit“ ähnelt. So wie wir Menschen ein ganz
spezifischer Komplex von Vegetativem, Sensorischem und Rationalem sind, so auch
das Gewächs.
Eine „diätetische Revolution“?
Das ist
selbstverständlich kein Grund und Anlass zu überschwänglichem botanischen
Spiritualismus. Der Stress der Pflanze ist nicht das Leiden des Tieres, und
schon gar nicht des Menschen. Wir dürfen nach wie vor getrost Kohlrabi
weichkochen, mit unseren Zähnen das Rübchen malträtieren und das Salatblatt in
Öl und Essig ertränken. Wenn wir von einer „diätetischen Revolution“ im
moralischen Verhalten gegenüber der Pflanze sprechen wollten, dann wäre damit
primär ein Perspektivenwechsel im Denken gemeint. Eine Art von Memento, Pflanzen
nicht auf organische Maschinen zu reduzieren, auf materielle Lager von
Kohlehydraten und Vitaminen oder neuerdings auch auf Biotreibstoff. Der Kampf
um die „Befreiung der Pflanze“ wäre so gesehen letztlich ein Kampf um die
Befreiung unserer selbst von einem ausschliesslich wirtschafts- und
technikdiktierten Tunnelblick auf alles Lebende. In den Gesichtskreis dieses
Blicks geraten nämlich früher oder später auch wir selbst.
Essen auf philosophischer Problemhöhe
Die
Prinzessin auf der Erbse in Hans Christian Andersens gleichnamigem Märchen
konnte anhand ihrer Erbsenempfindlichkeit erkannt werden: Sie schlief auf
etlichen übereinandergeschichteten Matratzen und wurde dennoch in ihrem Schlaf
durch eine Erbse gestört, die zuunterst lag. Wir Bürger von Konsumgesellschaften
werden, auf die „Schichten“ unserer Essgewohnheiten gebettet, kaum gestört
durch die Erbsen, generell durch die Pflanzen, die wir zu uns nehmen. Es schlüge
uns aber vielleicht gut an, moralisch etwas empfindlicher zu werden, wenn wir
Pflanzen oder Tiere essen. Man wird mir jetzt vermutlich entgegenhalten, das
seien doch „Luxusprobleme“ von Leuten, die ihre Mägen à discretion füllen
können. Richtig. Aber gerade dieses „Luxusproblem“ versetzt Leute, die neben
ihrem Magen noch einen Verstand haben, in die Lage, über das Alimentäre hinaus
zu denken – seien sie nun Rohköstler, Trennköstler, Urköstler, Sonnenköstler,
Steinzeitköstler, Veganer, Vegetarier, Pescetarier, Frutarier, Flexitarier,
Freeganer oder was auch immer für eine Fresskategorie. Philosophie beginnt beim
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