Es
gibt eine Soziologie des datifizierten Menschen. Alex Pentland, einer ihrer
prononciertesten Vertreter, spricht ruhmredig von einer „Wiedererfindung der
Gesellschaft im Sog von Big Data“. Pentland hat den sogenannten soziometrischen
Ausweis („sociometric badge“) erfunden, einer Art von intelligenter Identitätskarte,
die ich auf mir trage, und die ständig meinen Zustand und meine Wege im Netz
registriert. Man rüstet etwa die Angestellten einer Firma mit einer solchen
Karte aus. In ihr befinden sich Ortssensor, Akzelerometer, Mikrophon, die
kontrollieren und registrieren, wohin man geht und mit wem man spricht.
Pentland malt sich ein Szenario aus, in dem durch entsprechende Sensoren auch
„persönliches Energieniveau“ und „Empathie und Extraversion“ gemessen werden
können. Sein Slogan: „Was nicht gemessen werden kann, kann auch nicht gemanagt
werden.“ Und gemanagt werden muss alles.
***
Wen
ein mulmiges Gefühl ob dieser Entwicklung beschleicht, dem könnte angesichts
ihrer Weiterführung noch mulmiger zumute werden. Es geht nun nicht mehr bloss um
das Messen, sondern auch um das automatische Beurteilen von Sozialverhalten.
Neue sanft paternalistische Bewertungsmittel stehen zur Verfügung, zum Beispiel
„Habit
engineering“, „Nudge factor“ oder neuerdings das „Sozialkreditsystem“. Dieses
letztgenannte Instrument der Informationstechnologie erfreut sich heute
besonders in autoritären Regimes an wachsender Beliebheit. Die kommunistische
Führungsriege Chinas schwärmt davon. Man könnte von einem informationstechnisch
aufgerüsteten Behaviorismus sprechen: Selbst-Konditionierung des Bürgers durch Selbst-Rating.
Damit dressiert er sich selbst ein „ehrlicheres“, „vertrauenswürdigeres“,
weniger „gemeinschaftsschädigendes“ Verhalten an. „Big Data offenbart einem die
Zukunft,“ frohlockt der Generalsekretär des Parteikomitees für Politik und Recht,
Wang Yongqing. Er fordert, die Partei solle eine „vollständige Sammlung anlegen
von grundlegenden Informationen über alle Orte, alle Sachen, alle
Angelegenheiten und alle Menschen: von den Trends und Informationen darüber,
was sie essen, wie sie wohnen, wohin sie reisen und was sie konsumieren.“ Das
würde „unser Frühwarnsystem wissenschaftlicher, unsere Abwehr und Kontrolle
effektiver und unsere Schläge präziser“ machen.
***
Kern des Sozialkreditsystems ist ein Algorithmus, der
pausenlos Informationen sammelt, sortiert, analysiert und evaluiert. Wenn sich
diese „beschleunigte Bestrafungssoftware“ wie geplant entwickelt, ist jedes abweichende
Verhalten von vornherein ein Vertrauensbruch, ergo der „beschleunigten
Bestrafung“ zuzuführen. Das Sozialkreditsystem bedient sich dabei eines typischen
Neusprechs. Es geht allemal um „Verbesserung“, „Optimierung“, „Harmonisierung“.
Bestrafung ist eine „Hilfe“. Und so beschreibt ein Parteisekretär die technokommunistische
Endlösung: „Unser Ziel ist es, das Verhalten der Leute zu normieren. Wenn sich
alle normgemäss verhalten, ist die Gesellschaft automatisch stabil und harmonisch.“
Eine Gesellschaft von abgerichteten sozialen Atomen. Mit dem Staat als Big
Hacker.
***
Das
Projekt beraubt uns schleichend der Möglichkeit, uns anders als normgemäss zu verhalten. Es sagt ganz sanft: Wir
verbieten dir nicht, dich nicht verbessern zu wollen, aber wir verstehen nicht,
warum du dich nicht verbessern willst. In einem kleinen Essay des Titels „Über
das, was wir nicht tun können“ unterscheidet der italienische Philosoph Giorgio
Agamben zwei Grundarten der Machtausübung. Herkömmlicherweise besteht sie
darin, dass sie die Entwicklungsmöglichkeiten eines Individuums einschränkt,
etwa durch materielle Ressourcenverweigerung oder Verbote von Verhaltensweisen.
Die tückischere Art besteht in einer anderen Einschränkung. Für Agamben ist der
Mensch nicht „blind (geworden) für das, was er tun kann, sondern für das, was
er nicht tun oder unterlassen kann.“ Das ist eine subtile Beobachtung, denn sie
setzt das Unterlassen nicht als Unvermögen, sondern als ein Vermögen ein. Unterlassen
muss man können: es lernen und üben, als zivile Renitenz. Sie wird in dem Masse
wichtig, in dem Sozialingenieure, selbstgeblendet von ihrem Modell der
Menschenoptimierung, die Grenze des Modells nicht mehr sehen, anders gesagt:
ihr Modell für die Realität halten und auch die Macht haben, dieses Dafürhalten
in die Realität umzusetzen.
***
Gewiss,
ich kann durchaus noch auf Handy, Facebook-Konto oder smarte Identitätskarte verzichten.
Aber in einer Welt, in der immer mehr Leute ein Handy, ein Facebook-Konto und
eine smarte Identitätskarte haben, stellt sich die schon fast existenzielle Frage
nach den Folgen einer solchen Verzichtshaltung – zumal ich einen
„Sozialkreditabzug“ riskieren würde, wenn ich mich den neuen Technologien
verweigerte. Ich habe die Wahl, dieses oder jenes nicht zu tun – aber diesem Nicht-Tun entzieht man einfach den
Sauerstoff seiner Ausübung. Es heisst dann nicht: Du musst, sondern: Du kannst nicht
unterlassen. Wie es ein alter parteitreuer Vorzeigechinese formuliert: „Wenn
du viele Minuspunkte hast, dann tuscheln die anderen über dich: Guck mal, der
da, das ist ein B. Oder ein C. Manchmal reicht es, wenn wir die Leute warnen:
Du, wir stufen dich runter. Dann erschrecken sie.“ Eine Gesellschaft aus lauter
denunzierenden Fieslingen.
***
Wenn autoritäre Regimes wie das chinesische
eine Vorreiterrolle in der Menschendressur spielen, sollte man gleichzeitig den
Blick nicht von affinen Projekten in unseren westlichen Gefilden abwenden. Zum
Beispiel von Facebook. Hier bereitet sich ein Techno-Totalitarismus mit jovialem
Gesicht vor. Längst stiften die Algorithmen von Facebook, WhatsApp und
Instagramm nicht einfach Plattformen zum Chatten und Bildertausch, zur
Followersuche und Platzierung von Short News oder Ads - nichts Geringeres als
eine „globale Gemeinschaft“ wetterleuchtet am Zukunftshorizont. Zuckerberg, ihr
Kanzelprediger, spricht in seinen Enzykliken an die Facebook-Gemeinde vom totalisierenden
„Wir“, und meint damit natürlich eine vereinte Facebook-Menschheit. Das „Wir“
hat etwas Unerbittliches, Zwangsläufiges. Auch hier klingen die Ziele hehr: „Unsere
grössten Chancen sind jetzt global – Wohlstand verbreiten, Frieden und Verständnis
fördern, Menschen aus der Armut heben, wissenschaftlichen Fortschritt
beschleunigen (..) Facebook steht für dieses Zusammenrücken und Schaffen einer
globalen Gemeinschaft.“ Keine Rede davon, dass sich auf Facebook auch Gelichter
der widerwärtigen Art sammelt. Und ohnehin: Und wie bildet man eine globale
Gemeinschaft aus Nutzern, die kaum je ihren von Facebook kontrollierten Filterblasen
entfliehen? Die Frage bleibt unbeantwortet, was kaum überrascht: Es handelt
sich im Grunde um einen kolossalen Widerspruch in sich.
***
Hinter diesem Permaoptimismus verbirgt sich
das Konzept einer Gesellschaft aus technisch aufgerüsteten und „angeschlossenen“
Bürgern. Das verbindet Facebook mit den chinesischen Anstandsdresseuren. Soziale
Spannungen und Konflikte sind rein technische Probleme, die man mit technischen
Mitteln löst. Facebook kreiert ein Ökosystem zur Durchführung eines sozialen Experiments
monströsen Ausmasses, mit den bald einmal 2 Milliarden Nutzern als Laborratten.
Und die Frohbotschaften Zuckerbergs erweisen sich im Grunde als Promotion für
weitere technische Optimierungen: Algorithmenfilter, smartere Kundenwerbung und
Ratingsysteme, neue Verschlüsselungs- und Kontrollmethoden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen