Samstag, 8. Oktober 2016

Zombie-Ideen




NZZ, 30.9.2016

Warum falsche Vorstellungen nicht aussterben

Für viele, sich fortschrittlich dünkende Menschen stellt die Wissenschaftsgeschichte so etwas wie eine Leiter dar, auf der wir immer höher steigen, dabei Aberglauben und Ignoranz hinter uns lassend. Astronomie hat die Astrologie abgeworfen, so wie die klassische Mechanik die aristotelische Bewegungslehre, die Chemie die Alchemie, die Physiologie die paracelsische Pharmakologie oder die Neurologie die Psychologie. Dadurch, dass wir Ideen falsifizieren, kommen wir der Wahrheit ein Stück näher, lehrte der Philosoph Karl Popper.

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Stimmt das? Sofort bietet sich eine Handvoll Gegenbeispiele an: Viele Leute glauben heute noch an eine flache Erde, Exorzismus, Astrologie, Kreationismus, okkulte Heilkräfte der Steine. Man könnte diese Epidemiologie des Aberglaubens fast ad libitum fortsetzen. Soll man einfach sagen, diese Leute seien töricht und unbelehrbar? Das wäre nun selber töricht. Einer der grössten Physiker des letzten Jahrhunderts, Niels Bohr, antwortete einmal auf die Frage, ob er an das Hufeisen über seiner Haustür glaube: „Natürlich nicht. Aber wissen Sie, es soll auch nützen, wenn man nicht daran glaubt.“ Ob er dies ernst meinte, sei dahingestellt. Jedenfalls ist das Beharrungsvermögen alter, überständiger Ideen eine feststellbare Tatsache. Und es hat mehrere Gründe. Zunächst einen kognitiven. Wir leben in einer zunehmend komplexeren Welt. Die wissenschaftlichen Theorien, die uns das Geschehen erklären, wachsen uns über den Kopf in immer abstraktere Höhen. Sie sind selbst für Eingeweihte oft kaum mehr verständlich. Sie gewähren uns keine kognitive Heimat.

Betrachten wir zum Beispiel das Horoskop. Es ist auch im Zeitalter der wissenschaftlichen Prognose weit verbreitet und beliebt. Vielleicht gerade deshalb, weil es einer Epoche entstammt, in der man an die Verknüpfung des menschlichen Schicksals mit dem Gang der Sterne glaubte. Das Universum der Astrologie ist kein physikalisches, sondern ein hermeneutisches: voller deutbarer Zeichen. Der Himmel geht mich hier „persönlich“ etwas an, er „sagt“ mir etwas. Ich fühle mich „zuhause“, anders als im kalten, trost- und sinnlosen Universum der Astrophysik. Wir wissen zwar heute, dass es solche astralen Verknüpfungen nicht gibt, aber wir glauben nicht, was wir wissen! – Ich nenne dies das Wissensparadoxon.

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Ein anderer Grund für das Überleben falscher Ideen liegt in der „Provinzialität“ unserer Alltagserfahrung. Unsere Rede von Aufgang und Untergang der Sonne ist „provinziell“. Wir haben ja durchaus die Botschaft des Wissens vernommen, dass dies der Standpunkt eines überwundenen geozentrischen Weltbildes sei, aber uns fehlt der Glaube. Unsere Intuition, die sich vor allem an Alltagssituationen orientiert, teilt uns wenig über die Rotation der Erde oder die Gekrümmtheit der Erdoberfläche mit. Es braucht schon ein bisschen Überlegung und genaue Beobachtungsgabe. Je mehr sich unsere Theorien von diesen Alltags-Intuitionen entfernen, desto mehr verlangen sie eine Adaptation unserer Gehirne an die ungewohnten Situationen.

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Hinzu tritt der Autoritätsglaube. Wir hören das Echo von Max Plancks berühmtem Diktum: „Irrlehren der Wissenschaft brauchen 50 Jahre, bis sie durch neue Erkenntnisse abgelöst werden, weil nicht nur die alten Professoren, sondern auch deren Schüler aussterben müssen.“ Ein schönes Beispiel liefert der Fall der notorischen „Zungenkarte“. Der deutsche Physiologe David Paul Hänig fand zu Beginn des letzten Jahrhunderts heraus, dass die Zunge Geschmackszonen aufweist. Die elementaren Geschmacksqualitäten würden an entsprechenden Stellen mit „geringfügig“ verschiedenen Intensitäten empfunden: süss an der Zungenspitze, bitter an der Zungenwurzel, sauer und salzig seitwärts. Hänigs Buch wurde in den 1940er Jahren vom angesehenen amerikanischen Psychologen Edwin G. Boring ins Englische übersetzt, nur erachtete es dieser als hilfreicher, anstelle von Hänigs Diagrammen eine einfache und eingängige Karte der Geschmackszonen zu erstellen, wobei er verschwieg, dass die Unterschiede eigentlich „geringfügig“ seien. Die Zungenkarte war geboren, ein Bestandteil der Lehrbücher bis in die 1970er Jahre. Boring dixit, ergo verum est!

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Falsche Ideen können auch immun gegenüber der Wirklichkeit sein, weil sie die Wirklichkeit überhaupt erst schaffen helfen. Zum Beispiel die ökonomische. Nach der globalen Finanzkrise listete der australische Wirtschaftswissenschafter John Quiggin fünf „Zombie-Ideen“ auf, die nun eigentlich hätten beerdigt werden müssen. Insbesondere die sogenannte Markteffizienzhypothese, die in einer Version besagt, dass die im Finanzsektor generierten Preise das optimale Kriterium zur Abschätzung einer jeglichen Investition darstellen, weil alle Information bereits in den Preisen enthalten ist. Genau dies wurde durch die Krise falsifiziert. Aber die Hypothese war, so Quiggin, „zu zweckdienlich, um einfach aufgegeben zu werden.“ Too big to fail, auch bei Ideen.

Ein kleines wissenschaftstheoretisches Lehrstück ist zumal die Verteidigungsstrategie der Advokaten der Hypothese. Sie erinnert an das Giftorakel, das der Kulturanthropologe Edward E. Evans-Pritchard in den 1920er Jahren bei den Zande in Zentralafrika beobachtet hatte. Um eine Antwort auf eine schwierige Frage über die Zukunft zu erhalten, gibt der Wahrsager einem Huhn Gift. Je nachdem, ob das Huhn überlebt, trifft die Voraussage zu oder nicht. Die Kraft des Orakels wird nicht angezweifelt. Liegt es falsch, dann greift man zu dem, was Evans-Pritchard „sekundäre Elaboration“ nennt. Man erfindet Zusatzhypothesen, vulgo: Ausreden. Zum Beispiel hat man nicht die richtige Substanz verabreicht, ist sie alt und verdorben, spielt Hexenzauber hinein oder ist der Wahrsager schlicht inkompetent. Durch sekundäre Elaboration behauptet sich letztlich jeder Mumpitz.

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Sind wir aufklärungsresistent? Hier könnten neuere Beobachtungen Aufschluss geben, die von den Kognitionspsychologen Andrew Shtulman und Joshua Valcarel vom Occidental College, Los Angeles, gemacht worden sind. Sie konfrontierten naturwissenschaftlich unterrichtete Studenten mit einer Reihe von Aussagen aus diversen Fächern, deren Wahrheitsgehalt sie möglichst schnell und intuitiv einschätzen mussten. Die Studenten neigten oft zu älteren, überwundenen Ideen, obwohl sie eines „Besseren“ belehrt worden waren. Shtulman und Valcarel kommen zum Schluss: „Wenn Studenten wissenschaftliche Theorien lernen, die früheren, naiven Vorstellungen widersprechen, was geschieht dann mit diesen früheren Ideen? Unsere Resultate legen nahe, dass naive Theorien durch wissenschaftliche Theorien verdrängt, aber nicht ersetzt werden.“ Wir lernen Neues, aber verlernen Altes nicht.

Der Psychologe Kevin Dunbar von der University of Maryland untersuchte die intuitiven Physikkenntnisse von Studenten genauer. Dabei stellte er fest, dass viele der Befragten „überwundenen“ Ansichten zuneigten, etwa jener von Aristoteles, wonach schwere Kugeln schneller fallen als leichte. Eine Ansicht, die Galilei in einem berühmten Gedankenexperiment ad absurdum führte. Warum also lassen uns solch „absurde“ Vorstellungen nicht los? It’s the brain, stupid! Die wissenschaftliche „Zurückgebliebenheit“ lokalisierte Dunbar im dorsolateralen präfrontalen Cortex, einem Areal, das sich bei Heranwachsenden erst spät entwickeln soll. Es spiele eine entscheidende Rolle im Verdrängen von ungewollten, ungewohnten Ideen. Physikstudenten müssten, so Dunbar, ihren dorsolateralen präfrontalen Cortex bemühen, um ihre naiven „aristotelischen“ Vorstellungen zu unterdrücken und auf diese Weise zu reifem physikalischen Denken zu gelangen.

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Diese Erkenntnis suggeriert ein anderes Bild als jenes der Leiter. Alles Wissen ist geschichtlich, das heisst, es gleicht einem Stück Erdboden mit seinen sedimentierten Schichten; zuoberst unsere eigene rezente Epoche, darunter frühere Lagen.

In ihnen liegen die Wissens-Residuen aus alter Zeit bewahrt. Wir mögen sie als Überreste eines vorwissenschaftlichen Denkens bezeichnen, aber im Sedimentmodell des Wissens gewinnen sie eine vitalere Bedeutung: Sie bilden den Grund, auf dem unser Wissen in immer luftigere und abstraktere Höhen hinaufwächst. Sie sind der notwendige geistige Humus solchen Wachstums. In ihm stecken gewiss viele Denkleichen, die besser beerdigt blieben; aber aus ihm stossen immer wieder einmal Triebe an die Oberfläche, erwachen zu neuer Blüte. Ideen, welche die Vorsokratiker als reine Denkübung erwogen – die Atomhypothese oder die Viele-Welten-Theorie –, lagen Jahrtausende begraben, bis sie in den Schichten des 20. Und 21. Jahrhunderts zu physikalischer „Seriosität“ erwachten.

Oder betrachten wir das Beispiel der Homöopathie, die schon lange als Disciplina non grata verschrien ist. Besonders die Idee eines „Wassergedächtnisses“ hat in letzter Zeit an Aufmerksamkeit gewonnen vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir mit Wasser eine banale und vitale Substanz vor uns haben, die aber noch lange nicht genügend erforscht ist. Sie manifestiert einen überwältigenden Reichtum von Molekülstrukturen: Cluster. Das hat Chemiker und Informationstheoretiker auf den Gedanken der strukturellen Informationsübertragung gebracht: Wenn nicht die Zusammensetzung, sondern die Struktur einer Substanz ihre Eigenschaften ausmachen, dann könnte es ja sein, dass die homöopathische Lösung quasi die strukturelle Information – den „Geist“ - des Heilmittels „eingeprägt“ erhält, selbst wenn sie kein einziges Molekül der heilenden Materie mehr enthält.


Das ist nun allerdings ein höchst spekulativer und theoretisch nicht ausgeführter Gedanke. Und es bestehen grosse Zweifel, dass er Licht in die Black Box des Schüttelns und Verdünnens von homöopathischen Elixiren bringt. Es hilft hier auch nicht der Hinweis weiter, dass die Wirksamkeit bisher weder endgültig bewiesen noch widerlegt werden konnte. In solchen Fällen dürfte ein durchdachtes Mass an „Orthodoxie“ angebracht sein: Die Wirksamkeit von chemischen Mitteln hat sich auf so vielen Feldern bestätigt, dass es vielleicht doch an der Zeit wäre, die homoöpathische Idee endgültig zu begraben. Eine einfache erkenntnistheoretische Lektion erteilt sie uns dennoch: Sagen wir niemals vorschnell, eine Idee sei gestorben. Totgesagtes lebt vielleicht gerade in der Wissenschaft am längsten.

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