In der Wissensgesellschaft wimmelt es nur so von Experten. Kein Politiker, kein Konzern, keine Organisation, die auf lokaler oder globaler Bühne ihren Part spielen möchten, können heute noch auf das Expertenurteil verzichten. Das zieht sich mittlerweile bis in unseren Alltag hinein. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter der Last der Ratgeber. Wie es scheint, gibt es vor, während und selbst nach dem Leben kaum noch etwas, worüber nicht schon Expertenmeinung abgesondert worden wäre.
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Nun beschleicht einen schnell der paradoxe
Eindruck, dass proportional zur Expertenschwemme das Vertrauen in die Leute vom
Fach schwindet. Ein zentraler Grund liegt darin, dass sich das Verhältnis des
kritischen Bürgers zur Wissenschaft generell gewandelt hat. Lange Zeit war
dieses Verhältnis geprägt von einem Idealbild des Wissenschafters auf erhöhtem
Podest, der – eigentlich gar nicht von dieser Welt – uns sagt, wie die Welt
wirklich tickt. Noch Einstein konnte seinesgleichen zu „Tempeldienern“ der
reinen Erkenntnissuche hochstilisieren. Uns Heutigen erscheint dieses Bild
zunehmend als Augenwischerei, vielleicht aus enttäuschten Erwartungen in ein
wissenschaftliches Ethos, das sich regelmässig diskreditiert sieht. Wir sind
irritiert, wenn uns die eine Studie Kohlenhydrate empfiehlt, die andere genau
das Gegenteil. Wir sind indigniert, wenn ein Mediziner wie Andrew Wakenfield
1998 einen Zusammenhang zwischen Autismus und einem Impfstoff gegen Masern,
Mumps und Röteln konstruiert, nur um diesen Impfstoff im Auftrag einer
Interessengruppe in Misskredit zu bringen.
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Der englische Wissenschaftssoziologe Harry
Collins – ein Veteran der sogenannten „science wars“ - hat kürzlich ein
Büchlein mit dem Titel „Are we all scientific experts now?“ veröffentlicht. Die
Frage klingt wie das Symptom für ein Zeitalter des Post-Expertismus. Der
Ausdruck soll nicht suggerieren, dass der
wissenschaftliche Experte abgedankt hätte; vielmehr, dass der einfache
Gegensatz zwischen „Experten“ und „Laien“ einer graduellen Abstufung von
Expertentum gewichen ist. Nichts exemplifiziert dies deutlicher als das
Wissens-Jekami von Wikipedia.
Selbstverständlich zählt nach wie vor
das Wort der wissenschaftlichen Autorität. Aber die Wissenschaft hat in
der heutigen Gesellschaft ihren fast-unantastbaren Status verloren, und das
macht uns alle zu „Default-Experten“,
wie Collins dies nennt: „Default-Expertentum ist jenes Expertentum, das der
Bürger zu besitzen verspürt, weil Wissenschaft und Technik fehlbar sind,“
schreibt Collins.
Zu
Default-Experten werden wir fallweise, etwa beim Arzt, wenn er eine falsche
Diagnose stellt, ein Mittel verschreibt, das man nicht verträgt, oder eine
Therapie anordnet, die nicht anschlägt. Dann – so sagt man auch – greifen wir
zur Selbsthilfe. Wir beginnen uns selber genauer zu beobachten, werden
sensibler für gewisse Körperzeichen.
Chronisch kranke Menschen zum Beispiel entwickeln oft ein ausgeprägtes
persönliches Expertentum ihres Körpers, an welches das ärztliche nicht
herankommt. Man sollte die Fehlbarkeit nicht generell der Medizin anlasten, sie
liegt in der Komplexität des Systems selbst begründet, hier also unseres
Körpers (der eben mein Körper ist).
Zu Default-Experten können wir auch bei Finanz- oder meteorologischen Systemen
werden. Wäre angesichts der schon fast sprichwörtlich dubiosen Prognosen hier
nicht der völlig unzynische Ruf angemessen: Wir sind alle Experten?
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Default-Expertentum ist Expertentum aus Reaktion.
Aber wie steht es um das echte Expertentum? Existiert es, und worin besteht es?
Die Frage öffnet ein weites Feld. Versuchen wir eine Antwort mit einer
„weichen“ Definition. Das
lateinische Wort „expertus“ meint „erfahren sein“, oder auch „etwas versucht
haben“. Und genau hier müssen wir einhaken. Experten sind wir alle mehr oder
weniger, nicht einfach im Default-Sinne, sondern in dem Sinne, dass wir uns auf
das Leben einlassen, dass wir uns an ihm versuchen, dass wir durch es belehrt
werden. Die Expertise des Alltags, die daraus resultiert, nennen wir Commonsense:
gesunden Menschenverstand, Vertrauen in die eigene Erfahrung und
Urteilsfähigkeit, Knowhow. Dieser Commonsense sieht sich allerdings zunehmend
abgewertet durch eine Tendenz des Delegierens, die uns auf weiten Gebieten die
Handlungsträgerschaft und –verantwortung entzieht. Ausgelagerte, fremde
„Kompetenzen“ ersetzen sie, in Gestalt von Experten und Expertensystemen.
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Es
kommt durchaus vor, dass Laien einen gewissen spezialisierten Expertenstatus
gewinnen. Chronisch Kranke können – wie gesagt – quasi zu Experten ihrer Krankheit
werden, wie das Beispiel der Aids-Aktivisten in den USA zeigt. Aidskranke
Homosexuelle in San Francisco sabotierten in den 1980er Jahren nicht nur die
Doppelblindtestes neuer Medikamente, sie zogen auch die traditionellen Testverfahren
in Zweifel und rissen dadurch eine Debatte vom Zaun, in deren Verlauf die
betroffenen Behandelten und die experimentierenden Behandler zunehmend zu einer
neuartigen Forschungsgemeinschaft verschmolzen. Es fand sozusagen eine
„Expertifizierung“ der Kranken statt. Sie kann durchaus ein Modell abgeben für
entsprechende Kompetenzaneignungen auf anderen Feldern, etwa im Städtebau. Ein Beispiel
liefert das Projekt „Stadt (Er)finden“ der Berliner Urbanistin Saskia Hebert.
Hier gelten Ortsansässige als Experten, als Kenner lebenswichtiger Orte; sie
wissen, wo ein Kiosk, ein Kinderspielplatz, ein Kino hingehören. Planer, Architekten
und Studierende dagegen fungieren als „Externe“, die bei bestimmten Fragen
beigezogen werden.
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Immer
wichtiger erscheint in einer zunehmend unübersichtlicheren Wissenslandschaft ein
Meta-Expertentum, wie Collins es nennt, das heisst, die Unterscheidungsfähigkeit
zwischen echten und unechten, guten und schlechten Experten. Dazu ist kein
qualifiziertes Fachwissen nötig, sondern ein Wissen, wie dieses Wissen
präsentiert wird. Als relativ unproblematisch erweist sich Meta-Expertentum
etwa bei technischen Geräten wie Computer oder Auto. Ich erkenne die Fachperson
sehr schnell daran, dass sie den Druckertreiber wieder in Gang bringt bzw. eine
gebrochene Nockenwelle repariert. Solche einfachen Funktionskriterien gibt es
in der Wissenschaft nicht. Das heisst nicht, dass die Entlarvung wissenschaftliche
Trickster oder Bullshitter unmöglich wäre. Meta-Experten können wir werden,
indem wir merken, dass etwas faul ist: Zum Beispiel präsentieren Forscher nur
Material, das ihren Standpunkt stützt; oder Forscher sagen uns, ein bestimmter
Zusammenhang sei kein Faktum, weil kein Konsens unter Experten herrsche. In solchen
Fällen genügt eine Art von Whistleblower-Bereitschaft gegenüber der
Forschungspraxis. Gerade der Wissenschaftsjournalismus sollte dieses
Meta-Expertentum fördern und pflegen. Natürlich braucht es im wirklich „faulen
Fall“ spezialisierte Insiderarbeit, die zum Beispiel zeigt, dass die statistischen
Methoden eines Arztes nicht zu aussagekräftigen Resultaten führen; oder dass
mit Hirnexperimenten die Nichtexistenz des freien Willens nicht zu beweisen
ist.
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Vor 35
Jahren sprach Ivan Illich von der „Entmündigung durch Experten“. Er warnte vor
der „behaglichen Gleichgültigkeit der Bürger, die sich als Klientel dieser
Experten einer vielgestaltigen Sklaverei unterwerfen.“ Und er sah damals
bereits eine Position zwischen Expertenhörigkeit und Expertenfeindschaft
voraus, die er das „postprofessionelle Ethos“ nannte. Man könnte sagen: Im Zeitalter des Post-Expertismus lässt sich ein
neues altes Expertentum revalidieren. Wer zählt zu seinem Bekanntenkreis nicht
einen Liebhaber-Kenner von Pilzen, Käfern, Lokalgeschichte, alternativen
Energieformen oder extraterrestrischem Leben. Käuze und Spinner vielleicht,
aber sie verkörpern kaum ausgelotete Ressourcen für eine – wie sie der
Wissenschaftsphilosoph Peter Finke in seinem neuen Buch nennt – „Citizen Science“.
Man sollte sie freilich weder als eine parawissenschaftliche Konkurrenz noch
als eine billige Datenzulieferin der „Professional Science“ missdeuten. Auch nicht als eine genuine
Erkenntnissuche „von unten“, ohne „Korsett der Profis“, als die sie Finke ziemlich
populistisch zelebriert. Eher artikuliert sich hier ein Expertentum, das wir
alle mehr oder weniger für uns reklamieren können und sollen: Experte des
eigenen Lebens.
„Es ist so bequem, unmündig zu sein,“
schrieb Kant über die Medizin, „habe ich (..) einen Arzt, der für mich die Diät
beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig
zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdriessliche
Geschäft schon für mich übernehmen.“ In diesem Sinne stünde uns ein neuer
Ausgang aus der Unmündigkeit noch bevor.
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