Donnerstag, 21. Juli 2016

Sind wir jetzt alle Experten?









In der Wissensgesellschaft wimmelt es nur so von Experten. Kein Politiker, kein Konzern, keine Organisation, die auf lokaler oder globaler Bühne ihren Part spielen möchten, können heute noch auf das Expertenurteil verzichten. Das zieht sich mittlerweile bis in unseren Alltag hinein. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter der Last der Ratgeber. Wie es scheint, gibt es vor, während und selbst nach dem Leben kaum noch etwas, worüber nicht schon Expertenmeinung abgesondert worden wäre.

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Nun beschleicht einen schnell der paradoxe Eindruck, dass proportional zur Expertenschwemme das Vertrauen in die Leute vom Fach schwindet. Ein zentraler Grund liegt darin, dass sich das Verhältnis des kritischen Bürgers zur Wissenschaft generell gewandelt hat. Lange Zeit war dieses Verhältnis geprägt von einem Idealbild des Wissenschafters auf erhöhtem Podest, der – eigentlich gar nicht von dieser Welt – uns sagt, wie die Welt wirklich tickt. Noch Einstein konnte seinesgleichen zu „Tempeldienern“ der reinen Erkenntnissuche hochstilisieren. Uns Heutigen erscheint dieses Bild zunehmend als Augenwischerei, vielleicht aus enttäuschten Erwartungen in ein wissenschaftliches Ethos, das sich regelmässig diskreditiert sieht. Wir sind irritiert, wenn uns die eine Studie Kohlenhydrate empfiehlt, die andere genau das Gegenteil. Wir sind indigniert, wenn ein Mediziner wie Andrew Wakenfield 1998 einen Zusammenhang zwischen Autismus und einem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln konstruiert, nur um diesen Impfstoff im Auftrag einer Interessengruppe in Misskredit zu bringen.
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Der englische Wissenschaftssoziologe Harry Collins – ein Veteran der sogenannten „science wars“ - hat kürzlich ein Büchlein mit dem Titel „Are we all scientific experts now?“ veröffentlicht. Die Frage klingt wie das Symptom für ein Zeitalter des Post-Expertismus. Der Ausdruck soll nicht suggerieren, dass der wissenschaftliche Experte abgedankt hätte; vielmehr, dass der einfache Gegensatz zwischen „Experten“ und „Laien“ einer graduellen Abstufung von Expertentum gewichen ist. Nichts exemplifiziert dies deutlicher als das Wissens-Jekami von Wikipedia.  Selbstverständlich zählt nach wie vor  das Wort der wissenschaftlichen Autorität. Aber die Wissenschaft hat in der heutigen Gesellschaft ihren fast-unantastbaren Status verloren, und das macht uns alle zu „Default-Experten“, wie Collins dies nennt: „Default-Expertentum ist jenes Expertentum, das der Bürger zu besitzen verspürt, weil Wissenschaft und Technik fehlbar sind,“ schreibt Collins.
Zu Default-Experten werden wir fallweise, etwa beim Arzt, wenn er eine falsche Diagnose stellt, ein Mittel verschreibt, das man nicht verträgt, oder eine Therapie anordnet, die nicht anschlägt. Dann – so sagt man auch – greifen wir zur Selbsthilfe. Wir beginnen uns selber genauer zu beobachten, werden sensibler für gewisse Körperzeichen.  Chronisch kranke Menschen zum Beispiel entwickeln oft ein ausgeprägtes persönliches Expertentum ihres Körpers, an welches das ärztliche nicht herankommt. Man sollte die Fehlbarkeit nicht generell der Medizin anlasten, sie liegt in der Komplexität des Systems selbst begründet, hier also unseres Körpers (der eben mein Körper ist). Zu Default-Experten können wir auch bei Finanz- oder meteorologischen Systemen werden. Wäre angesichts der schon fast sprichwörtlich dubiosen Prognosen hier nicht der völlig unzynische Ruf angemessen: Wir sind alle Experten?

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Default-Expertentum ist Expertentum aus Reaktion. Aber wie steht es um das echte Expertentum? Existiert es, und worin besteht es? Die Frage öffnet ein weites Feld. Versuchen wir eine Antwort mit einer „weichen“ Definition. Das lateinische Wort „expertus“ meint „erfahren sein“, oder auch „etwas versucht haben“. Und genau hier müssen wir einhaken. Experten sind wir alle mehr oder weniger, nicht einfach im Default-Sinne, sondern in dem Sinne, dass wir uns auf das Leben einlassen, dass wir uns an ihm versuchen, dass wir durch es belehrt werden. Die Expertise des Alltags, die daraus resultiert, nennen wir Commonsense: gesunden Menschenver­stand, Vertrauen in die eigene Erfahrung und Urteilsfähigkeit, Knowhow. Dieser Commonsense sieht sich allerdings zunehmend abgewertet durch eine Tendenz des Delegierens, die uns auf weiten Gebieten die Handlungsträgerschaft und –ve­r­antwortung entzieht. Ausgelagerte, fremde „Kompetenzen“ ersetzen sie, in Gestalt von Experten und Expertensystemen.

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Es kommt durchaus vor, dass Laien einen gewissen spezialisierten Expertenstatus gewinnen. Chronisch Kranke können – wie gesagt – quasi zu Experten ihrer Krankheit werden, wie das Beispiel der Aids-Aktivisten in den USA zeigt. Aidskranke Homosexuelle in San Francisco sabotierten in den 1980er Jahren nicht nur die Doppelblindtestes neuer Medikamente, sie zogen auch die traditionellen Testverfahren in Zweifel und rissen dadurch eine Debatte vom Zaun, in deren Verlauf die betroffenen Behandelten und die experimentierenden Behandler zunehmend zu einer neuartigen Forschungsgemeinschaft verschmolzen. Es fand sozusagen eine „Expertifizierung“ der Kranken statt. Sie kann durchaus ein Modell abgeben für entsprechende Kompetenzaneignungen auf anderen Feldern, etwa im Städtebau. Ein Beispiel liefert das Projekt „Stadt (Er)finden“ der Berliner Urbanistin Saskia Hebert. Hier gelten Ortsansässige als Experten, als Kenner lebenswichtiger Orte; sie wissen, wo ein Kiosk, ein Kinderspielplatz, ein Kino hingehören. Planer, Architekten und Studierende dagegen fungieren als „Externe“, die bei bestimmten Fragen beigezogen werden.

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Immer wichtiger erscheint in einer zunehmend unübersichtlicheren Wissenslandschaft ein Meta-Expertentum, wie Collins es nennt, das heisst, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen echten und unechten, guten und schlechten Experten. Dazu ist kein qualifiziertes Fachwissen nötig, sondern ein Wissen, wie dieses Wissen präsentiert wird. Als relativ unproblematisch erweist sich Meta-Expertentum etwa bei technischen Geräten wie Computer oder Auto. Ich erkenne die Fachperson sehr schnell daran, dass sie den Druckertreiber wieder in Gang bringt bzw. eine gebrochene Nockenwelle repariert. Solche einfachen Funktionskriterien gibt es in der Wissenschaft nicht. Das heisst nicht, dass die Entlarvung wissenschaftliche Trickster oder Bullshitter unmöglich wäre. Meta-Experten können wir werden, indem wir merken, dass etwas faul ist: Zum Beispiel präsentieren Forscher nur Material, das ihren Standpunkt stützt; oder Forscher sagen uns, ein bestimmter Zusammenhang sei kein Faktum, weil kein Konsens unter Experten herrsche. In solchen Fällen genügt eine Art von Whistleblower-Bereitschaft gegenüber der Forschungspraxis. Gerade der Wissenschaftsjournalismus sollte dieses Meta-Expertentum fördern und pflegen. Natürlich braucht es im wirklich „faulen Fall“ spezialisierte Insiderarbeit, die zum Beispiel zeigt, dass die statistischen Methoden eines Arztes nicht zu aussagekräftigen Resultaten führen; oder dass mit Hirnexperimenten die Nichtexistenz des freien Willens nicht zu beweisen ist.   

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Vor 35 Jahren sprach Ivan Illich von der „Entmündigung durch Experten“. Er warnte vor der „behaglichen Gleichgültigkeit der Bürger, die sich als Klientel dieser Experten einer vielgestaltigen Sklaverei unterwerfen.“ Und er sah damals bereits eine Position zwischen Expertenhörigkeit und Expertenfeindschaft voraus, die er das „postprofessionelle Ethos“ nannte. Man könnte sagen: Im Zeitalter des Post-Expertismus lässt sich ein neues altes Expertentum revalidieren. Wer zählt zu seinem Bekanntenkreis nicht einen Liebhaber-Kenner von Pilzen, Käfern, Lokalgeschichte, alternativen Energieformen oder extraterrestrischem Leben. Käuze und Spinner vielleicht, aber sie verkörpern kaum ausgelotete Ressourcen für eine – wie sie der Wissenschaftsphilosoph Peter Finke in seinem neuen Buch nennt – „Citizen Science“. Man sollte sie freilich weder als eine parawissenschaftliche Konkurrenz noch als eine billige Datenzulieferin der „Professional Science“  missdeuten. Auch nicht als eine genuine Erkenntnissuche „von unten“, ohne „Korsett der Profis“, als die sie Finke ziemlich populistisch zelebriert. Eher artikuliert sich hier ein Expertentum, das wir alle mehr oder weniger für uns reklamieren können und sollen: Experte des eigenen Lebens.


„Es ist so bequem, un­mündig zu sein,“ schrieb Kant über die Medizin, „habe ich (..) einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdriessliche Geschäft schon für mich überneh­men.“ In diesem Sinne stünde uns ein neuer Ausgang aus der Unmündigkeit noch bevor.

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