Donnerstag, 9. Juni 2016

Angst vor Islamophobie





NZZ, 31.5.2016 (Kurzversion)

Einer der Nestoren der linken politischen Philosophie, Michael Walzer, hat letztes Jahr unter dem Titel „Islamism and the Left“ ein unangenehmes Thema aufgebracht.[1] Der Tenor seiner Ausführungen:  Wie es scheint, haben die Linken im Westen mehr Angst vor Islamophobie als vor den Islamisten selbst.

„Vor langer Zeit,“ schreibt Walzer, „sahen wir der ‚Entzauberung der Welt’ entgegen – wir glaubten, dass der Triumph von Wissenschaft und Säkularisierung eine notwendige Bedingung der Moderne sei (..) Heute erfährt jede grosse Weltreligion ein bedeutsames Wiederaufleben, und die wiederbelebte Religion ist kein Opiat, wie wir dachten, sondern ein sehr starkes Stimulans (..) Von Pakistan bis Nigeria, und auch in Teilen Europas ist der Islam eine Religion, die eine grosse Zahl von Männern und Frauen, vor allem Männern, dazu anstiften kann, in ihrem Namen zu töten und zu sterben.“ Ein beunruhigendes Phänomen, vor dem viele Linke zurückschrecken, weil sie, so Walzer, eine „schreckliche Furcht davor (haben), als ‚islamophob’ bezeichnet zu werden.“ Das Buch der unerschrockenen Caroline Fourest „Eloge du blasphème“ (2015) wurde von keinem englischsprachigen Verlag übernommen. Es gibt eine Ausgabe auf Kindle mit dem Untertitel „Why Charlie Hebdo is not islamophobic“.

Was heisst „links“?
Nun muss selbstverständlich vorab geklärt werden, was unter „links“ zu verstehen ist. Auf die Gefahr hin, Walzer vereinfachend zu interpretieren, bezeichne ich damit die Allianz zweier Tendenzen: Anti-Imperialismus und Relativismus. Die erste Tendenz äussert sich auch weithin als Anti-Amerikanismus, als Reaktion auf die oft agressive Verbreitung des American Way of Life, der kapitalistisch dominierten Ökonomie, der Pax Americana, das heisst des Demokratie-Imports und des Nation-building in Drittweltstaaten, im Interesse der USA, das heisst vor allem ihrer Wirtschaftsgiganten. Damit eng verbunden ist die zweite Tendenz, nämlich die Verteidigung „lokaler“ Traditionen und Kulturen, über welche die Walze des Globalismus hinwegrollt; die Bewahrung der Sitten und Bräuche von Völkern und Menschengruppen, die sich dem uniformisierenden „westlichen“ Lebensstil entziehen. Meist wird dabei der postmoderne Anspruch vertreten, dass jede Kultur ihr Recht auf Ausübung ihrer Lebensformen habe und ein neutraler, universeller Standpunkt in der Beurteilung kultureller Praktiken nicht haltbar sei; ja, sich oft nur als verstecktes „postkoloniales“ Streben entwickelter industrieller Nationen entpuppe - als Imperialismus eben. Im Sinne dieser Logik erscheinen dann die Reaktionen „bedrohter“ Kulturen auch als Befreiungsbewegung der Unterprivilegierten und der Verlierer im globalen politisch-ökonomischen Grosskampf: eine Neuauflage der alten Klassenkämpfe. Und in diesem Klima wirkt nun der religiöse Extremismus besonders toxisch.

Der islamophobe Muslim
Die Ironie will es, dass nun schon muslimische Kritiker des Islam unter die Keule der Islamophobie geraten. Der algerische Autor Kamel Daoud, der kürzlich mit einer Neuversion von Albert Camus’ „Der Fremde“ für literarisches Aufsehen sorgte, hat die Ereignisse der Kölner Silvesternacht zum Anlass genommen, sich über das Frauenbild der Muslime zu äussern.[2] Eine Phalanx von Sozial- und Kulturwissenschaftern erhob daraufhin unter dem Banner „Gerechtigkeit für Muslime“ den alten Vorwurf des „Orientalismus“, also des eurozentrischen, verzerrenden Islamverständnisses – ein typisch postmodern-relativistischer Vorwurf. Damit insinuiert man leicht „Islamophobie“. Liest man Daouds Artikel, stellt sich freilich schnell der Eindruck ein, er bemühe sich, gerade aus „dem Innern“ des islamischen Körper- und Frauenverständnises heraus, die Nöte – „das sexuelle Elend“ - eines jungen Muslims zu erklären; im Besonderen die Verachtung des Körperlichen, das ja ohnehin eine blosse Passage ins ewige Leben sei. Das Leben selbst werde in einer solchen Weltanschauung zum „Verbrechen“. Von daher auch der Todeskult der Dschihadisten. Eine zentrale Herausforderung für Europäer, so Daoud, sei deshalb, dass sie sich in der Begegnung mit muslimischen Migranten auch selbst wieder mit dem säkularen Weltverständnis und seinen Werten auseinanderzusetzen beginnen und sich bewusst werden, was sie eigentlich an diesem Weltverständnis haben. Obwohl Daoud in seiner Darstellung des „gestörten“ Verhältnisses zur Frau nicht gerade zimperlich ist, vermag man aus seiner Lektüre keineswegs jenen „Kulturkampf“, den „Essenzialismus“, „Kulturalismus“ und „Psychologismus“ zu erkennen, den ihm die postmodernen Kämpen zu attestieren suchen. Ist es so schrecklich, wenn man dem Islam Massstäbe anlegt, die ihm fremd sind, zum Beispiel jenen der Gleichberechtigung der Frau?

Entislamisierung der Konflikte
Eine gebräuchliche Taktik ist die Entreligionisierung der Konflikte. Sie gehört zum klassisch-marxistischen Repertoire: man erklärt das religiöse Phänomen weg. Es handelt sich, so der Tenor, „im Grunde“ gar nicht um religiöse Streitigkeiten, der Glaube werde vielmehr zu ganz säkularen und machtpolitischen Zwecken, zu lokalen und regionalen Hegemonialansprüchen, missbraucht.

Ein Beispiel liefert der Fall der Schulmädchenentführung durch die islamistische Terrorgang Boko Haram in Nigeria. Die pakistanisch-amerikanische Publizistin Rafia Zakaria bezichtigt die westliche Medienberichterstattung der Sensationsgeilheit und Scharfmacherei gegen den Islam. In einer Kolumne von Al Jazeera America[3] unter dem alles sagenden Titel „Die Fallen des Schulmädchen-Feminismus“ meldet sie Zweifel am feministischen amerikanischen Engagement „Bring back our girls“ an, das sich anti-islamisch instrumentalisieren lasse. Aber dann lässt sie ihre Skepsis abrutschen in eine kulturalistische Schwadronade: „Indem man strategische Anreize in feministische Motive verpackt und gutmeinende Weststaatler als Retter der Eingeborenenkinder zeichnet, vertritt man eine alte Taktik. Diese kolonialen Tropen wurden schon während der mehr als zehn Jahre dauernden Präsenz der USA in Afghanistan breit diskutiert.“ Vor diesem Hintergrund weise das „Auftauchen des Schulmädchen-Paradigmas“ als Basis eines feministischen Aktivismus - in dem „eine Seite so sichtbar ungleich, jünger und einfacher sei“ -, genügend Ähnlichkeiten mit der Vergangenheit auf, um mit Skepsis betrachtet zu werden.

Daran ist durchaus etwas. So berechtigt aber die Kritik an der Instrumentalisierung von Schicksalen afrikanischer Schulmädchen ist, so sollte sie doch nicht vom eigentlichen Tatbestand ablenken. Das Kidnappen, das physische und psychische Vergewaltigen von Minderjährigen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, kein „Paradigma“. Und gegenüber solchen Widerlichkeiten gibt es keine verblasene postmoderne Phraseologie und Skepsis.

Sündenbock-Monismus
Bereits widmen sich einschlägige Organe dem Phänomen Islamophobie, etwa das halbjährlich erscheinende „Islamophobia Studies Journal“. Im Editorial der zweiten Ausgabe stehen folgende Sätze: „Einige erklären das aufkommende anti-muslimische Ressentiment weg als ‚natürliches’ Resultat der vielen brutalen Ereignisse in der islamischen Welt im Besonderen und des ‚Terrorismus’ im Allgemeinen. Dagegen behaupten wir, dass die wachsenden negativen Gefühle mit der Gegenwart einer gut organisierten und gut unterstützten Islamophobie-Industrie zu tun haben könnten, der es gelungen ist, in (..) den öffentlichen Diskurs einzudringen und ihn zu kapern, ohne ernsthaften Widerspruch. Bisher haben es antirassistische und progressive Stimmen nicht geschafft, diese Industrie herauszufordern und die nötigen Ressourcen zu beschaffen, um regionale und nationale Gegenmassnahmen zu treffen.“[4]

Einmal abgesehen davon, dass der Zeitschrift mit einer solchen Diagnose ein hübsches Stück Eigenwerbung gelingt, exemplifiziert das Editorial ein typisches argumentatives Manöver: Sündenbock-Monismus. Im vorliegenden Fall die „ Islamophobie-Industrie“. Ein Agens im Unter- oder Hintergrund. In dieses Horn stösst zum Beispiel  auch die Journalistin Margaret Kimberley. Boko Haram würde sich „nur“ rächen für die Gewalttaten der Regierung, die Rebellen gefangen genommen hätte. „Die Entführungen sind ein direktes Resultat der Misshandlung der Bevölkerung durch die Regierung und der fehlgeschlagenen Versuche, Boko Haram zu bekämpfen (..) Der amerikanische Durchschnittsbürger kann nichts dazu beitragen, die Mädchen zu befreien, und jene, die etwas tun könnten, sind nicht sonderlich interessiert am mörderischen internen Kriegsgeschehen in Nigeria. Ihre Machenschaften schufen diese und viele andere Tragödien in der ganzen Welt.“[5]

Die anti-imperialistische Erzählung braucht eine Ergänzung
Nun gibt es gewiss „Machenschaften“, und zwar ganz böse, etwa jene der Ölunternehmen. Der anti-imperialistischen Erzählung, dass Boko Haram das Gesicht einer Rebellion gegen Armut, Leiden und Vernachlässigung sei, treten aber Einheimische mit einer andern Geschichte entgegen. Wie etwa der nigerianische Menschenrechtsaktivist Leo Igwe erklärt, ist die Tragödie in Nigeria auch hausgemacht, und zwar gerade durch die religiösen Zwiste innerhalb des Landes: „Man sagt, dass die lange leidende Resignation der Muslime sich in Wut und Verzweiflung verkehrt habe; und dass Boko Haram das Gesicht dieses gerechten und begründeten Zorns sei (..) Jedes intelligente Mitglied der nigerianischen Gesellschaft weiss, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.“

Seit Jahrzehnten zerrütten Nigeria Kämpfe um die Durchsetzung und Vorherrschaft der Scharia. Sie haben, so Igwe, die Bedingungen geschaffen, unter denen Boko Haram auftreten konnte. Kein edler Befreiungskrieg und Aufstand gegen „den Westen“. „Junge Muslime unterziehen sich einer Gehirnwäsche durch Geistliche in Moscheen und ‚Gelehrte’ in Koranschulen (..) Ihr Geist wird mit dogmatischer und absolutistischer Lehre vergiftet. Man lässt sie glauben, sie würden für die Sache Allahs kämpfen (..) und das Paradies erwartete sie. Die Botschaft von Boko Haram ist die nihilistische Ideologie des Islamismus, nicht Armut, Leiden und Vernachlässigung (..) Ich kann verstehen, warum einige  Segmente der europäischen und amerikanischen Presse die islamistische Komponente in diesem ‚heiligen Krieg’ lieber übersehen und die Situation anders interpretieren. Sie wollen vermeiden, als ‚islamophob’ angeklagt zu werden.“[6]

„Rien-à-voirisme“
Zu sagen, Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun, wäre etwa dasselbe, wie zu sagen, die Inquisition habe nichts mit dem Katholizismus zu tun. Der Chef von „Le Monde des livres“, Jean Birnbaum, bezeichnet dies als „Rien-à-voirisme“. Aber statt nun wie das Kaninchen die Schlange Dschihadismus anzustarren, wäre es angezeigter, ein anderes Phänomen oder Syndrom nicht aus den Augen zu verlieren. Schauen wir auf ein paar auffällige Symptome. Karikaturisten werden verfolgt und ermordet. Jean-Marie Le Pen erklärt im Putin-Blatt „Komolskaia Pravda“, dass dies den Leuten von „Charlie Hebdo“ zu Recht widerfahren sei, denn es handle sich um anarchistische und unmoralische Feinde des Front National. Putin verfolgt regierungskritische Bewegungen wie Pussy Riot. Sie machen ihn zur lächerlichen Figur. Der kaukasische Despot Kadyrow, eine Puppe Putins, pöbelt an einem Massenanlass in Grosny: „Wir werden einen entschiedenen Protest gegen die Vulgarität, Unmoral, den Mangel an Kultur und die Schamlosigkeit jener lancieren, welche die Karikaturen des Propheten zeichneten.“ In der Türkei rennt ein Staatspräsident fast jeder Satire und Kritik an seiner Person als einer Majestätsbeleidigung hinterher.

Mafiosifizierung der Politik
Man muss nun keineswegs den Humor von „Charlie Hebdo“ oder von Böhmermann goutieren. Aber wir sollten den Blick weiten. Die sogenannte Wiederkehr des Religiösen ist die Facette einer umfassenderen Entwicklung: der Erstarkung eines grimmigen Autoritarismus. Sie lassen ein Gespenst aus der Vergangenheit wiederaufleben, vor dem man sich wirklich zu fürchten hat. Diesem Gespenst ist nichts so zuwider wie Meinungsfreiheit und Freiheit der Selbstdarstellung, Kritik, Ironie, Witz, Sinn für Mehrdeutigkeit, Toleranz für Andersartiges. Ständig posaunt es „Respekt vor der Religion“, „Respekt vor dem Türkentum“, „Respekt vor dem neuen Russland“, und meint: Duck dich und halt den Mund! „Respekt“ ist ein Lieblingswort der Mafia, und mit ihm leistet man einer Mafiosifizierung der Politik Vorschub. – Und dadurch wird der politische Giftschrank grösser. Er beinhaltet jetzt nicht nur Dschihadisten und Möchtegernkalifen, sondern auch die Jean Marie Le Pens, Putins, Erdogans dieser Welt, zudem die Prozession bigotter Frommbacken mit ihrem Dekadenzvorwurf, die wüste Horde von Provinzdespoten und Hinterwäldlerwarlords. An ihnen zeigt sich die Fratze des zynischen, ruchlosen, heuchlerischen, verbohrten, verblendeten oder bloss verblödeten Verächters modernen Menschseins, politisch gewendet: der liberalen und demokratischen Gesellschaft. Und als solcher gehört er an den Pranger der Weltlächerlichkeit gestellt. Wann und wo auch immer.








[2]      Kamel Daoud: Das sexuelle Elend der arabischen Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.2.2016; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/islam-und-koerper-das-sexuelle-elend-der-arabischen-welt-14075502.html . Der Artikel erschien zuerst in Le Monde unter dem Titel „Cologne, lieu des phantasmes“, 31.1.2016.
[5]      Nikolas Kozloff: A Tale of Boko Haram, Political Correctness, Feminism and the Left, The Worldpost, 30. 7. 2014; http://www.huffingtonpost.com/nikolas-kozloff/a-tale-of-boko-haram-poli_b_5421960.html
[6]      Leo Igwe: Is the Boko Haram menace rooted in poverty or fanaticism?, Leftfootforward, 12.5.2014,  http://leftfootforward.org/2014/05/is-the-boko-haram-menace-rooted-in-poverty-or-fanaticism/

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