NZZ, 31.5.2016 (Kurzversion)
Einer
der Nestoren der linken politischen Philosophie, Michael Walzer, hat letztes
Jahr unter dem Titel „Islamism and the Left“ ein unangenehmes Thema
aufgebracht.[1]
Der Tenor seiner Ausführungen: Wie es
scheint, haben die Linken im Westen mehr Angst vor Islamophobie als vor den
Islamisten selbst.
„Vor
langer Zeit,“ schreibt Walzer, „sahen wir der ‚Entzauberung der Welt’ entgegen
– wir glaubten, dass der Triumph von Wissenschaft und Säkularisierung eine
notwendige Bedingung der Moderne sei (..) Heute erfährt jede grosse
Weltreligion ein bedeutsames Wiederaufleben, und die wiederbelebte Religion ist
kein Opiat, wie wir dachten, sondern ein sehr starkes Stimulans (..) Von
Pakistan bis Nigeria, und auch in Teilen Europas ist der Islam eine Religion,
die eine grosse Zahl von Männern und Frauen, vor allem Männern, dazu anstiften
kann, in ihrem Namen zu töten und zu sterben.“ Ein beunruhigendes Phänomen, vor
dem viele Linke zurückschrecken, weil sie, so Walzer, eine „schreckliche Furcht
davor (haben), als ‚islamophob’ bezeichnet zu werden.“ Das Buch der
unerschrockenen Caroline Fourest „Eloge du blasphème“ (2015) wurde von keinem
englischsprachigen Verlag übernommen. Es gibt eine Ausgabe auf Kindle mit dem
Untertitel „Why Charlie Hebdo is not islamophobic“.
Was heisst „links“?
Nun
muss selbstverständlich vorab geklärt werden, was unter „links“ zu verstehen
ist. Auf die Gefahr hin, Walzer vereinfachend zu interpretieren, bezeichne ich damit
die Allianz zweier Tendenzen: Anti-Imperialismus und Relativismus. Die erste
Tendenz äussert sich auch weithin als Anti-Amerikanismus, als Reaktion auf die
oft agressive Verbreitung des American Way of Life, der kapitalistisch
dominierten Ökonomie,
der Pax Americana, das heisst des Demokratie-Imports und des Nation-building in
Drittweltstaaten, im Interesse der USA, das heisst vor allem ihrer
Wirtschaftsgiganten. Damit eng verbunden ist die zweite Tendenz, nämlich die
Verteidigung „lokaler“ Traditionen und Kulturen, über welche die Walze des Globalismus
hinwegrollt; die Bewahrung der Sitten und Bräuche von Völkern und
Menschengruppen, die sich dem uniformisierenden „westlichen“ Lebensstil
entziehen. Meist wird dabei der postmoderne Anspruch vertreten, dass jede
Kultur ihr Recht auf Ausübung ihrer Lebensformen habe und ein neutraler,
universeller Standpunkt in der Beurteilung kultureller Praktiken nicht haltbar
sei; ja, sich oft nur als verstecktes „postkoloniales“ Streben entwickelter
industrieller Nationen entpuppe - als Imperialismus eben. Im Sinne dieser Logik
erscheinen dann die Reaktionen „bedrohter“ Kulturen auch als Befreiungsbewegung
der Unterprivilegierten und der Verlierer im globalen politisch-ökonomischen
Grosskampf: eine Neuauflage der alten Klassenkämpfe. Und in diesem Klima wirkt
nun der religiöse Extremismus besonders toxisch.
Der islamophobe Muslim
Die
Ironie will es, dass nun schon muslimische Kritiker des Islam unter die Keule
der Islamophobie geraten. Der algerische Autor Kamel Daoud, der kürzlich mit
einer Neuversion von Albert Camus’ „Der Fremde“ für literarisches Aufsehen
sorgte, hat die Ereignisse der Kölner Silvesternacht zum Anlass genommen, sich
über das Frauenbild der Muslime zu äussern.[2]
Eine Phalanx von Sozial- und Kulturwissenschaftern erhob daraufhin unter dem
Banner „Gerechtigkeit für Muslime“ den alten Vorwurf des „Orientalismus“, also
des eurozentrischen, verzerrenden Islamverständnisses – ein typisch
postmodern-relativistischer Vorwurf. Damit insinuiert man leicht „Islamophobie“.
Liest man Daouds Artikel, stellt sich freilich schnell der Eindruck ein, er
bemühe sich, gerade aus „dem Innern“ des islamischen Körper- und
Frauenverständnises heraus, die Nöte – „das sexuelle Elend“ - eines jungen
Muslims zu erklären; im Besonderen die Verachtung des Körperlichen, das ja
ohnehin eine blosse Passage ins ewige Leben sei. Das Leben selbst werde in
einer solchen Weltanschauung zum „Verbrechen“. Von daher auch der Todeskult der
Dschihadisten. Eine zentrale Herausforderung für Europäer, so Daoud, sei deshalb,
dass sie sich in der Begegnung mit muslimischen Migranten auch selbst wieder
mit dem säkularen Weltverständnis und seinen Werten auseinanderzusetzen
beginnen und sich bewusst werden, was sie eigentlich an diesem Weltverständnis
haben. Obwohl Daoud in seiner Darstellung des „gestörten“ Verhältnisses zur
Frau nicht gerade zimperlich ist, vermag man aus seiner Lektüre keineswegs
jenen „Kulturkampf“, den „Essenzialismus“, „Kulturalismus“ und „Psychologismus“
zu erkennen, den ihm die postmodernen Kämpen zu attestieren suchen. Ist es so schrecklich,
wenn man dem Islam Massstäbe anlegt, die ihm fremd sind, zum Beispiel jenen der
Gleichberechtigung der Frau?
Entislamisierung der Konflikte
Eine
gebräuchliche Taktik ist die Entreligionisierung der Konflikte. Sie gehört zum klassisch-marxistischen
Repertoire: man erklärt das religiöse Phänomen weg. Es handelt sich, so der
Tenor, „im Grunde“ gar nicht um religiöse Streitigkeiten, der Glaube werde
vielmehr zu ganz säkularen und machtpolitischen Zwecken, zu lokalen und
regionalen Hegemonialansprüchen, missbraucht.
Ein Beispiel
liefert der Fall der Schulmädchenentführung durch die islamistische Terrorgang
Boko Haram in Nigeria. Die pakistanisch-amerikanische Publizistin Rafia Zakaria
bezichtigt die westliche Medienberichterstattung der Sensationsgeilheit und Scharfmacherei
gegen den Islam. In einer Kolumne von Al Jazeera America[3]
unter dem alles sagenden Titel „Die Fallen des Schulmädchen-Feminismus“ meldet
sie Zweifel am feministischen amerikanischen Engagement „Bring back our girls“
an, das sich anti-islamisch instrumentalisieren lasse. Aber dann lässt sie ihre
Skepsis abrutschen in eine kulturalistische Schwadronade: „Indem man strategische
Anreize in feministische Motive verpackt und gutmeinende Weststaatler als
Retter der Eingeborenenkinder zeichnet, vertritt man eine alte Taktik. Diese
kolonialen Tropen wurden schon während der mehr als zehn Jahre dauernden
Präsenz der USA in Afghanistan breit diskutiert.“ Vor diesem Hintergrund weise
das „Auftauchen des Schulmädchen-Paradigmas“ als Basis eines feministischen
Aktivismus - in dem „eine Seite so sichtbar ungleich, jünger und einfacher sei“
-, genügend Ähnlichkeiten
mit der Vergangenheit auf, um mit Skepsis betrachtet zu werden.
Daran ist
durchaus etwas. So berechtigt aber die Kritik an der Instrumentalisierung von
Schicksalen afrikanischer Schulmädchen ist, so sollte sie doch nicht vom
eigentlichen Tatbestand ablenken. Das Kidnappen, das physische und psychische
Vergewaltigen von Minderjährigen, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
kein „Paradigma“. Und gegenüber solchen Widerlichkeiten gibt es keine
verblasene postmoderne Phraseologie und Skepsis.
Sündenbock-Monismus
Bereits
widmen sich einschlägige Organe dem Phänomen Islamophobie, etwa das
halbjährlich erscheinende „Islamophobia Studies Journal“. Im Editorial der
zweiten Ausgabe stehen folgende Sätze: „Einige erklären das aufkommende
anti-muslimische Ressentiment weg als ‚natürliches’ Resultat der vielen
brutalen Ereignisse in der islamischen Welt im Besonderen und des ‚Terrorismus’
im Allgemeinen. Dagegen behaupten wir, dass die wachsenden negativen Gefühle
mit der Gegenwart einer gut organisierten und gut unterstützten
Islamophobie-Industrie zu tun haben könnten, der es gelungen ist, in (..) den
öffentlichen Diskurs einzudringen und ihn zu kapern, ohne ernsthaften Widerspruch.
Bisher haben es antirassistische und progressive Stimmen nicht geschafft, diese
Industrie herauszufordern und die nötigen Ressourcen zu beschaffen, um
regionale und nationale Gegenmassnahmen zu treffen.“[4]
Einmal
abgesehen davon, dass der Zeitschrift mit einer solchen Diagnose ein hübsches
Stück Eigenwerbung gelingt, exemplifiziert das Editorial ein typisches
argumentatives Manöver: Sündenbock-Monismus. Im vorliegenden Fall die „
Islamophobie-Industrie“. Ein Agens im Unter- oder Hintergrund. In dieses Horn
stösst zum Beispiel auch die
Journalistin Margaret Kimberley. Boko Haram würde sich „nur“ rächen für die
Gewalttaten der Regierung, die Rebellen gefangen genommen hätte. „Die
Entführungen sind ein direktes Resultat der Misshandlung der Bevölkerung durch
die Regierung und der fehlgeschlagenen Versuche, Boko Haram zu bekämpfen (..)
Der amerikanische Durchschnittsbürger kann nichts dazu beitragen, die Mädchen
zu befreien, und jene, die etwas tun könnten, sind nicht sonderlich interessiert
am mörderischen internen Kriegsgeschehen in Nigeria. Ihre Machenschaften
schufen diese und viele andere Tragödien in der ganzen Welt.“[5]
Die anti-imperialistische Erzählung braucht
eine Ergänzung
Nun gibt es
gewiss „Machenschaften“, und zwar ganz böse, etwa jene der Ölunternehmen. Der
anti-imperialistischen Erzählung, dass Boko Haram das Gesicht einer Rebellion
gegen Armut, Leiden und Vernachlässigung sei, treten aber Einheimische mit
einer andern Geschichte entgegen. Wie etwa der nigerianische
Menschenrechtsaktivist Leo Igwe erklärt, ist die Tragödie in Nigeria auch
hausgemacht, und zwar gerade durch die religiösen Zwiste innerhalb des Landes:
„Man sagt, dass die lange leidende Resignation der Muslime sich in Wut und
Verzweiflung verkehrt habe; und dass Boko Haram das Gesicht dieses gerechten und
begründeten Zorns sei (..) Jedes intelligente Mitglied der nigerianischen
Gesellschaft weiss, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte.“
Seit
Jahrzehnten zerrütten Nigeria Kämpfe um die Durchsetzung und Vorherrschaft der
Scharia. Sie haben, so Igwe, die Bedingungen geschaffen, unter denen Boko Haram
auftreten konnte. Kein edler Befreiungskrieg und Aufstand gegen „den Westen“.
„Junge Muslime unterziehen sich einer Gehirnwäsche durch Geistliche in Moscheen
und ‚Gelehrte’ in Koranschulen (..) Ihr Geist wird mit dogmatischer und
absolutistischer Lehre vergiftet. Man lässt sie glauben, sie würden für die
Sache Allahs kämpfen (..) und das Paradies erwartete sie. Die Botschaft von Boko
Haram ist die nihilistische Ideologie des Islamismus, nicht Armut, Leiden und
Vernachlässigung (..) Ich kann verstehen, warum einige Segmente der europäischen und amerikanischen
Presse die islamistische Komponente in diesem ‚heiligen Krieg’ lieber übersehen
und die Situation anders interpretieren. Sie wollen vermeiden, als ‚islamophob’
angeklagt zu werden.“[6]
„Rien-à-voirisme“
Zu
sagen, Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun, wäre etwa dasselbe, wie zu
sagen, die Inquisition habe nichts mit dem Katholizismus zu tun. Der Chef von
„Le Monde des livres“, Jean Birnbaum, bezeichnet dies als „Rien-à-voirisme“. Aber
statt nun wie das Kaninchen die Schlange Dschihadismus anzustarren, wäre es
angezeigter, ein anderes Phänomen oder Syndrom nicht aus den Augen zu
verlieren. Schauen wir auf ein paar auffällige Symptome. Karikaturisten werden
verfolgt und ermordet. Jean-Marie Le Pen erklärt im Putin-Blatt „Komolskaia
Pravda“, dass dies den Leuten von „Charlie Hebdo“ zu Recht widerfahren sei, denn
es handle sich um anarchistische und unmoralische Feinde des Front National.
Putin verfolgt regierungskritische Bewegungen wie Pussy Riot. Sie machen ihn
zur lächerlichen Figur. Der kaukasische Despot Kadyrow, eine Puppe Putins, pöbelt
an einem Massenanlass in Grosny: „Wir werden einen entschiedenen Protest gegen
die Vulgarität, Unmoral, den Mangel an Kultur und die Schamlosigkeit jener
lancieren, welche die Karikaturen des Propheten zeichneten.“ In der Türkei rennt
ein Staatspräsident fast jeder Satire und Kritik an seiner Person als einer Majestätsbeleidigung
hinterher.
Mafiosifizierung der Politik
Man
muss nun keineswegs den Humor von „Charlie Hebdo“ oder von Böhmermann
goutieren. Aber wir sollten den Blick weiten. Die sogenannte Wiederkehr des Religiösen
ist die Facette einer umfassenderen Entwicklung: der Erstarkung eines grimmigen
Autoritarismus. Sie lassen ein Gespenst aus der Vergangenheit wiederaufleben,
vor dem man sich wirklich zu fürchten hat. Diesem Gespenst ist nichts so
zuwider wie Meinungsfreiheit und Freiheit der Selbstdarstellung, Kritik,
Ironie, Witz, Sinn für Mehrdeutigkeit, Toleranz für Andersartiges. Ständig posaunt
es „Respekt vor der Religion“, „Respekt vor dem Türkentum“, „Respekt vor dem
neuen Russland“, und meint: Duck dich und halt den Mund! „Respekt“ ist ein
Lieblingswort der Mafia, und mit ihm leistet man einer Mafiosifizierung der
Politik Vorschub. – Und dadurch wird der politische Giftschrank grösser. Er beinhaltet
jetzt nicht nur Dschihadisten und Möchtegernkalifen, sondern auch die Jean Marie
Le Pens, Putins, Erdogans dieser Welt, zudem die Prozession bigotter
Frommbacken mit ihrem Dekadenzvorwurf, die wüste Horde von Provinzdespoten und
Hinterwäldlerwarlords. An ihnen zeigt sich die Fratze des zynischen, ruchlosen,
heuchlerischen, verbohrten, verblendeten oder bloss verblödeten Verächters
modernen Menschseins, politisch gewendet: der liberalen und demokratischen Gesellschaft.
Und als solcher gehört er an den Pranger der Weltlächerlichkeit gestellt. Wann und wo auch immer.
[2] Kamel
Daoud: Das sexuelle Elend der arabischen
Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.2.2016; http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/islam-und-koerper-das-sexuelle-elend-der-arabischen-welt-14075502.html . Der Artikel erschien zuerst in Le Monde
unter dem Titel „Cologne, lieu des phantasmes“, 31.1.2016.
[5] Nikolas
Kozloff: A Tale of Boko Haram, Political
Correctness, Feminism and the Left, The Worldpost, 30. 7. 2014; http://www.huffingtonpost.com/nikolas-kozloff/a-tale-of-boko-haram-poli_b_5421960.html
[6] Leo
Igwe: Is the Boko Haram menace rooted in
poverty or fanaticism?, Leftfootforward, 12.5.2014, http://leftfootforward.org/2014/05/is-the-boko-haram-menace-rooted-in-poverty-or-fanaticism/
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