Samstag, 28. Mai 2016

Brauchen wir eine Enzyklopädie der Gefühle?




NZZ, 7.4.2016

Die meisten von uns kennen wahrscheinlich das Gefühl der Melancholie. Aber wie steht es mit der Matutolypie: der morgendlichen Beklommenheit beim Erwachen (zusammengesetzt aus dem Namen der römischen Göttin des Morgens, Mater Matuta, und dem griechischen „lype“: Bedrücktheit)? Die britische Kulturwissenschafterin Tiffany Watt-Smith macht uns in ihrer kürzlich erschienenen „Enzyklopädie der Gefühle“ mit solchen exotisch klingenden, letztlich aber durchaus vertrauten Emotionen bekannt.[1] Frau Watt-Smiths Enzyklopädie ist eine bunte, oft kuriose Kollektion von Aufgelesenem aus den verschiedensten Kulturen, Räumen und Zeiten, von „Ambigophobie“ (Unbehagen vor Mehrdeutigkeiten) bis zu „Żal“ (polnisch für eine Art von Melancholie, die sich in Chopins Musik ausdrücken soll). Möglicherweise spürt man ein Gefühl tatsächlich deutlicher, wenn man einen Namen dafür hat. Aber es geht nicht bloss um Namen. Wie die Autorin schreibt: „Die Art, wie wir fühlen, ist tief geprägt von den Bedeutungen, die wir (den Gefühlen, E.K.) zuschreiben, Bedeutungen, die sich über Zeiten und Räume verschieben. Ich verstehe diese Sammlung als Geste wider jene Versuche, die schöne Komplexität unseres inneren Lebens auf eine Handvoll Basisemotionen zu reduzieren. Wenn ich etwas gelernt habe: Wir brauchen nicht weniger Worte für unsere Gefühle. Wir brauchen mehr.“

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Die Sprache der Gefühle ist eine Sprache des Scheiterns; ein Scheitern der Sprache. Wir alle kennen die Schwierigkeit und Verlegenheit, das Gefühl zu beschreiben, das uns in einer bestimmten Situation befällt, dieses diffus-flüchtige und doch oft so verflixt reale Je-ne-sais-quoi in unserer Innenwelt. Wir greifen dann meist notgedrungen zu Metaphern aus der Aussenwelt. Oft scheint es, als gehörten wir mehr den Gefühlen an, als die Gefühle uns. Wir geraten in sie wie in Landschaften. Deswegen beschreiben wir ja Landschaften in Gefühlstönen. Nicht nur sind Wolken trübsinnig, unser Trübsinn hängt wie eine Wolkenbank in uns. Und wir haben mit Gefühlen die gleichen Probleme wie mit Landschaften: wir können deren atmosphärischen Charakter im Grunde nicht adäquat wiedergeben, wir müssen „mittendrin“ sein. Gerade in derartigen Momenten bemerken wir, wie stark Gefühle von den jeweiligen Situationen abhängen, in denen wir uns befinden. Man achte überdies auf die Doppeldeutigkeit des Wortes „befinden“: es weist auf einen inneren Zustand und zugleich auf einen äusseren Ort. So gehört zum Beispiel der Zorn zu den Basisemotionen, er übertüncht meist mit kräftigem Impasto unsere Gefühlslage. Aber Zorn ist selbstverständlich nicht Zorn. Der Zorn angesichts der unfairen Behandlung eines Mitmenschen ist nicht der Zorn in einer Demonstration gegen Umwelzverschmutzung; auch nicht der Zorn über die unangemessene Beurteilung einer Prüfungsarbeit oder der Zorn über den Verfall der Sitten. Will man die Emotion beschreiben, dann kommt man nicht umhin, Umstände und Umwelt dieser Emotion zu beschreiben.

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Gefühle, so schreibt der Nestor der Kognitionspsychologie Jerome Bruner, haben ihre kulturelle „Signatur“. Nehmen wir das Beispiel der Acedia. Sie wird meist mit Trägheit, Langeweile, Traurigkeit, Apathie umschreiben - allesamt Prüfungen und Herausforderungen für den christlichen Mönch des Mittelalters. Acedia rangierte unter den Lastern, als „Mönchskrankheit“. Sie führt nicht nur zu Trägheit, sondern macht auch anfällig für Heimsuchungen sexueller Art, die den enthaltsamen Mönch vor allem zur schläfrigen Mittagszeit als „Mittagsdämonen“ plagen. „Schweifung des Geistes in Richtung des Unerlaubten“, wie das Thomas von Aquin nannte. Können wir Acedia heute fühlen? Der argentinische Generalabt der Zisterzienser Bernardo Olivera scheint dies zu können. In einem Rundbrief am seine Mitgläubigen im Jahre 2007 schildert er ausführlich die „Traurigkeit, die das Verlangen nach Gott zersetzt“. Aber eben: man müsste schon gläubiger Mit-Leidender sein, um in sich dieses spezifische Gefühl resonieren zu lassen.

Umgekehrt würde kein mittelalterlicher Mönch jene spezielle Regung kennen, die heute unter Handybenutzern aufkommt: die Klingelneurose; auf Englisch „ringxiety“, aus „ring“ (klingeln) und „anxiety“ (Besorgnis). Man hört Phantomgeräusche, hat ständig das Gefühl, dass jemand einen anrufe. Wahrscheinlich gab es auch im Mittelater Leute, die ständig Stimmen und Geräusche hörten und in einem entsprechend wachsamen und alarmierten Zustand lebten. Hatten sie ein Gefühl wie Klingelneurose? Schon die Frage ist eigentlich irreführend. Wie kann einer eine Klingelneurose haben, wenn es die Klingel noch gar nicht gibt? Wie kann einer auf Draht sein in einer Kultur ohne Telefon? Klingelneurose ist ein innerer Zustand in einem spezifisch technischen Kontext. Man kann Kontext und Zustand nicht trennen.

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Aber, so meldet sich der Einwand, gibt es denn nicht „etwas Gemeinsames“ zwischen Mönch und Handybenutzer, schliesslich gehören beide unserer Spezies an und verfügen daher über das nahezu gleiche evolutionäre Outfit. Dieser Einwand ist fast 150 Jahre alt. Er bereitete sich mit Darwins Buch „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ (1872) vor, genauer: mit der kühnen These, dass unsere Emotionen das Ergebnis eines Jahrmillionen dauernden Anpassungs- und Ausleseprozesses sind. Wir fühlen so, wie wir fühlen, weil uns die Evolution auf diese Weise geholfen hat, zu überleben. Wir ekeln uns, weil wir uns dadurch vor Vergiftung schützen; wir lieben uns, weil wir dadurch kooperieren und für Nachwuchs sorgen. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese These von den Gefühlen als Garnitur im Überlebenskampf eine breite Anhängerschaft gewonnen, sodass William James sagen konnte, wir würden nicht zittern, weil wir Angst haben, sondern wir hätten Angst, weil wir zittern. Zuerst die körperliche Reaktion, dann das Gefühl. Eine solche Ansicht – auch wenn sie in dieser Extremform kaum haltbar ist – erfreut sich heute in der Neurophysiologie einer gewissen argumentativen Attraktivität. Etwas vergröbert, läuft sie auf das Schema hinaus: Weil in der neuronalen Kommandozentrale unseres Gefühlslebens, in der Amygdala, die-und-die Prozesse ablaufen, fühle ich das-und-das. Das heisst, wir brauchen nicht eine Enzyklopädie der Gefühle, wir brauchen eine universelle Hirnsprache; statt blumiger Umschreibungen eines Gefühls präzise Angaben über Serotoninspiegel, Glukokortidoidhaushalt und Adrenalinausschüttung.
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Wenn man die Enzyklopädie als Bemühen versteht, die Sprache der Gefühle gegen deren Auflösung im neuronalen Idiom zu verteidigen, dann muss man ein solches Bemühen nicht bloss linguistisch, sondern anthropologisch weiter fassen. Es geht um die „Auflösung“ des Menschen im neurobiologischen Blick. Selbstverständlich korrespondieren Emotionen mit Hirnereignissen, aber ein Hirnereignis ist ein Hirnereignis ist ein Hirnereignis, und auf dieser Ebene erkennen wir nichts, was an eine Emotion erinnert. Eine Adrenalinausschüttung mag gleich bleiben, aber wie sie sich anfühlt, hängt ab von je meinem Zustand des Zorns, der Traurigkeit oder der Euphorie. Wenn Gefühl und Ausdruck untrennbar zusammenhängen, dann tötet man das Gefühl in dem Augenblick, in dem man es verhirnt.

Zur Debatte steht nicht, ob die Fortschritte der Neurowissenschaften uns über unser emotionales Leben belehren können. Das Problem ist ein forschungspolitisches. Wir stecken Miliarden in Projekte, die Gehirn und Gefühle künstlich nachzubauen suchen. Der renommierte Latsis-Preis wurde 2013 dem Emotionsforscher David Sander verliehen, für seine Studien über die Steuerungsfunktion der Amygdala bei Emotionen. Das ist in Ordnung. Aber gibt es einen Preis zur Erforschung der emotionalen Diversität? Wieviel Geld bekäme ein solches Projekt? Eine Antwort auf diese Frage könnte uns als Mass dafür dienen, wie weit wir uns von dem entfernt haben, was man einst „human“ nannte.





[1] Tiffany Watt-Smith: The Book of Human Emotions: An Encyclopaedia of Feeling from Anger to Wanderlust, 2015.

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