NZZ, 22.3.2016
Das Mögliche ist ungeheuer, schrieb Dürrenmatt.
Nichts Reales bedroht uns nachts im Wald; aber wir sehen im Wurzel- und Astwerk
das Mögliche: Schemen und Schraten; und hinter den Stämmen könnte uns ein Tier
auflauern. Wir haben Angst. Wir wandern über einen Berggrat, links und rechts
fallen die Flanken schroff ab. Wir sind gut gesichert durch ein Drahtseil, aber
wir haben Angst. Wir könnten abstürzen. Mir gegenüber im Zug sitzt ein junger
Mann von arabischem Aussehen. Er macht einen freundlichen Eindruck und lächelt
mich an. Aber könnte das so ein Exemplar des „afroarabischen Sexterroristen“
sein, wie die Pegida-Rampenfrau Festerling den Typus mit
taxonomischem Feingefühl bezeichnet hat?
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Furcht empfinden wir vor einer akuten Bedrohung,
vor etwas, das da ist. Angst empfinden wir vor einer möglichen Bedrohung, vor
etwas, das nicht da ist, aber da sein könnte. Furcht bezieht sich auf ein
reales Objekt. Angst ist ein unbestimmter, deswegen nicht weniger realer
psychischer Zustand; sozusagen eine Erregtheit auf der Suche nach ihrem
Erreger. Haben wir in der gegenwärtigen Migrationssituation Grund zur Furcht?
Die Lage ist ernst, gewiss, aber das Vertrackte ist ja, dass wir keinen
Massstab für diesen Ernst haben. Kaum eine objektive Warte existiert im wirren
und verwirrenden Palaver. Und es verstärkt eine elementare menschliche
Disposition: Wir verwischen leicht die Grenze zwischen Wirklichem und Möglichem.
Darin liegt
eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Mit dem Konjunktiv lässt sich der Mensch
manipulieren und indoktrinieren. Mystagogen und Demagogen haben sich dieses wirkungsvollen
Mittels immer schon bedient, indem sie uns mit dem, was sein könnte, zu verführen
oder zu ängstigen versuchen. Der Konjunktiv ist der Adjutant der Angstmache.
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Eine
seiner wichtigsten Waffen ist das Unwahrscheinliche. Eine Atmosphäre der Angst
bauscht es auf. Es nistet sich in meiner Wahrnehmung ein wie der graue Star. In
einer kleinen Gemeinde im Berner Oberland stimmten über 90 Prozent für die
Durchsetzungsinitiative. Die Gemeinde zählt gerade mal drei Bewohner ohne
Schweizerpass. Die Wahrscheinlichkeit der Ausländerkriminalität ist also verschwindend
klein. Aber es könnte ja sein, dass... Und das Perfide des real
„vagabundierenden“ Terrors liegt darin, dass er mit jedem neuen Schlag dieses
verschwindend Kleine zu einer unverhältnismässigen Grösse aufbläst: eben zum
möglichen Terror. Er düngt in einer verängstigten Öffentlichkeit den Nährboden
für das Verdächtige, Spekulative, ja, auch Wahnhafte. Die Angst schafft
sozusagen einen Möglichkeitsraum, in dem das Potenzielle fast das gleiche
Gewicht erhält wie das Aktuelle. Der Brandherd ist bereits der Grossbrand.
Terrorismus, Geheimwaffen, böse Algorithmen, laxer Strafvollzug, Wirtschaftskrise,
politische Kabalen, Klimawandel, Giftstoffe in Luft, Wasser, Nahrungsmittel,
Aliens auf Monsterasteroiden, invasive Spezies (Pflanzen,Tiere, Menschen)
– das ideale Treibhaus, um mit der
Grundbefindlichkeit der Angst Wucher zu treiben.
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Angst
kann gelernt werden. Aus der Geschichte der Psychologie ist das
Little-Albert-Experiment notorisch, durchgeführt vom Vater der
Verhaltenstechnologie John B. Watson. Er liess ein neun Monate altes Baby –
„Little Albert“ – mit einer weissen Ratte vergnüglich spielen. Das Kleinkind
zeigte keine Furcht vor der Ratte, wohl aber vor lautem Geräusch. Nach einiger
Zeit des Spielens schlug Watson mit einem Hammer auf eine Stahlplatte hinter
dem Rücken von Little Albert, als dieser nach der Ratte griff. Der Kleine
erschrak, fiel vornüber auf die Matratze, vergrub sein Gesicht in ihr. Nach
einigen Wiederholungen fürchtete er sich vor der Ratte, ohne Lärmstimulus; und
nicht nur vor ihr, sondern auch vor anderen rattenähnlichen Reizen, etwa vor
Hasen, Pelzmänteln oder einer Maske des Weihnachtsmanns. Ein klassischer Fall
von Konditionierung. Little Albert wurde zur Angst vor etwas abgerichtet, das
er vorher gar nicht fürchtete.
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Die
Schläge auf die Stahlplatte: das sind die Terrorattacken, die Gewaltvideos, die
Androhungen. Sie jagen uns Furcht und Schrecken ein, mit dem insidiösen Effekt,
dass wir wie Little Albert, ohne die Quellen auszumachen, eine Angst vor allem
entwickeln, was aussieht wie eine „Ratte“. Angst macht bekanntlich
unfrei. Sie richtet uns ab zu kollektiver Zwangs-Wahrnehmung. Zum
Wir-ihr-Denken. Zu einer Mobifizierung der Politik. Das wissen auch die Konditionierer
der Angst. Ihre narrative Wühlarbeit zersetzt die res publica wie die
Terrorattacken. Vermutlich sogar wirksamer. Wenn das Mögliche ungeheuer ist,
könnte es also von Vorteil sein, dass wir das Sensorium für das Wirkliche nicht
verlieren. Und das heisst unter anderem, den wieseligen Angstkonditionierern in
Politik und Medien genauer aufs Maul zu schauen.