Es mutet
tief paradox an: Wir feiern die menschliche Rationalität in technisch-wissenschaftlichen
Errungenschaften wie autonomen Robotern, Gensequenzierung oder Quantencomputern;
und gleichzeitig befleissigen sich Neurobiologen und Psychologen, uns diesen
rationalistischen Dünkel auszutreiben. Wir sind gar nicht so smart, wie wir
meinen, sagen sie uns, wir sind ein Knäuel aus Instinkten und Vorurteilen, unser
Blick auf die Welt ist von kognitiven Verzerrungen heimgesucht - kurz: die
sogenannte Vernunft, auf die wir uns so viel zugute halten, ist bestenfalls
eine schöne Verpackung für einen eher dunklen Inhalt voller Irrationalitäten. Die gegenwärtige Skepsis in die menschliche
Rationalität speist sich zu einem beträchtlichen Teil aus der sogenannten
Verhaltensökonomik, zumal seit Daniel Kahnemanns viel gelesenem Buch „Schnelles
Denken, langsames Denken“, das uns das Misstrauen in den vernünftigen Homo oeconomicus
im Besonderen, in den Menschen im Allgemeinen lehrte. Bereits der Psychologe
Gerd Gigerenzer schlug den gleichen Stimmton an, und seither arbeiten Autoren
wie etwa David Mc Raney oder Jonathan Haidt eifrig an einem neuen Mosaik des
Menschen als eines von Intuition und Instinkten gesteuerten Wesens. Die
Verehrung der Vernunft, so Haidt, ist das „Beispiel für den Glauben in etwas,
das es nicht gibt.“ Analog zum Atheismus könnte man also vom Arationalismus sprechen.
***
Rationalitätslästerung
hat eine bewegte moderne Geschichte. Angefangen bei der Antithese der
Romantiker gegen ein „rein“ rationalistisches Menschenbild, fand sie einen ersten
Höhepunkt bereits in den wütenden philosophischen Hammerschlägen Nietzsches,
und die Grosskatastrophen der beiden Weltkriege lieferten Max Horkheimer und
Theodor Adorno die Lizenz zur wohl vehementeste Absage an die moderne – die
„instrumentelle“ - Vernunft. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist eine
Schrift von grandioser Einseitigkeit, eine unbarmherzige Generalabrechnung mit
der Moderne, welche ihr Banner – die Aufklärung – in Fetzen reisst. „Aufklärendes
Denken (enthält) schon den Keim zu jenem Rückschritt (..), der heute (1944!
E.K.) überall sich ereignet“.Dabei fällt Naturwissenschaft und Technik die
Täterrolle zu. Aufklärung mündet in Technik und Wissenschaft – so die Kernthese
-, und Technik und Wissenschaft verdinglichen den Menschen, sie machen ihn zu
einem in Labor, Fabrik, Krieg und Konsum verfügbaren Objekt, sie „liquidieren“
alles Individuell-Einzigartige an ihm in der „repressiven Egalität“ der Abstraktion,
welche mit der Horden-Mentalität der Hitlerjugend zu vergleichen sei (sic). Auschwitz, Hiroshima und – für
Adorno das Schlimmste – Kunst als industrielle Massenware sind das logische
Ende der „liquidierenden“ Rationalität.
***
Horkheimer
und Adorno massen die Vernunft an ihren negativen Auswüchsen. Dieses Vorgehen
hat eine lange Tradition. Der Hass auf die Vernunft – die Misologie – zieht historische
Spuren bis in die Antike. Für Plato war Misologie identisch mit Menschenhass –
mit Misanthropie. Denn der Mensch ist per definitionem das „vernünftige Tier“. Woher
stammt dieser Hass? Platon diagnostizierte eine enttäuschte Erwartung in die
rationale Überzeugungskraft,
die sich leicht durch Scheinargumentation und Rechthaberei kompromittieren
lasse. Zum Misologen kann man werden, sagt Sokrates im Dialog „Phaidon“, wenn
man mehrmals einem Vernunftschluss getraut habe, der sich aber bei genauerer
Betrachtung als fehlerhaft erweist. Der Misologe missdeutet die eigene
Unfähigkeit, logisch zu denken, als Defizit der Logik selbst. Anders sah das der
grosse Vernunftphilosoph der Neuzeit, Immanuel Kant. Er führte die Misologie auf
den natürlichen menschlichen Hang zur Glückseligkeit und zum Lebensgenuss
zurück. „In der Tat finden wir auch,“ schreibt er, „dass, je mehr eine
kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuss des Lebens und der
Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit
abkomme, woraus bei vielen (..) ein gewisser Grad von Misologie, als Hass der
Vernunft, entspringt..“ Die „kultivierte“ Vernunft ist also eine Genuss- und
Glückstörerin, die vom Menschen erst noch gewisse Anstrengungen abverlangt. Und
wenn es ums Abwägen geht, zieht die Vernunft gegenüber dem Instinkt oft den
Kürzeren.
***
Dieser
Gedanke führt geradewegs zur modernen Verhaltensforschung. Denn sie weist immer
wieder nach, wie stark der Mensch von Instinkten und Voreingenommenheiten getrieben,
und wie schwach angeblich die Kontrolle seiner Urteilskraft ist. Kahnemann
demonstrierte dies anhand zahlreicher Experimente, die er mit dem Psychologen
Amos Tversky durchführte. Letztlich resultierte ihre Forschung in einer
Demontage des Paradigmas der klassischen Ökonomie: des rational abwägenden Homo
oeconimicus. „Rational“ entscheidet nach diesem Paradigma eine Person dann,
wenn sie das Eigeninteresse maximiert. Aber schon das klassische
spieltheoretische Beispiel des sogenannten Gefangenen-Dilemmas zeigt, dass
Handeln aus Eigeninteresse zu suboptimalen Entscheidungen führen kann. Zwei
Komplizen einer Straftat sitzen voneinander isoliert in Untersuchungshaft, der
eine weiss nicht, was der andere tut. Gestehen beide, beträgt die Strafe vier
Jahre Haft. Gesteht der eine, der andere aber nicht, führt dies beim ersten zur
einjährigen Mindest-, beim zweiten zur sechsjährigen Höchststrafe. Gestehen
beide nicht, bekommen sie zwei Jahre Haft. Das wäre, objektiv gesehen, der
optimale Nutzen für jeden. Aber in der geschilderten Situation „menschelt“ es.
Wenn der eine nicht gesteht, kann er
nicht sicher sein, dass der andere dasselbe tut. Aus dieser misstrauischen Eigenperspektive
heraus entscheiden sie sich für das Gestehen, handeln in diesem Sinne also
nicht „rational“.
***
Kahnemann
und seinem Kollegen Amos Tversky ging es primär um falsche Entscheidungen aus
Voreingenommenheit, oder wie es im Fachjargon heisst: aus kognitiver Verzerrung
(Bias). Berühmt geworden ist das „Linda-Problem“. Und schon hier stellt sich
die Frage: Was heisst eigentlich „falsch“? In einem Experiment gab man den
Probanden folgende Information: Linda ist eine Frau von 31 Jahren, Single,
offen und ein helles Köpfchen. Sie hat einen Abschluss in Philosophie. Als
Studentin engagierte sie sich in Fragen der sozialen und rassischen Diskriminierung
und nahm an Anti-Nuklear-Demonstrationen teil. Daraufhin stellte man den Probanden
die Frage: Ist es wahrscheinlicher, dass Linda Bankangestellte oder dass sie
zugleich Bankangestellte und Feministin ist? Wer auf die erste Antwort tippt,
liegt richtig, denn in beiden Fällen ist Linda ja Bankangestellte. Dennoch
tendiert die Mehrzahl der Befragten dazu, die zweite Option als
wahrscheinlicher zu betrachten. Kahnemann spricht von einem „Konjunktions-Fehlschluss“.
Aber urteilen die Befragten falsch? Nicht unbedingt. Logisch gesehen, sind die
biografischen Daten über Linda zur Beantwortung der Frage irrelevant. Die
wenigsten von uns handeln jedoch im Alltag logisch im strikten Sinne des
Wortes. Es erscheint im Setting des Experiments durchaus „rational“, die Daten
als irgendwie repräsentativ für Linda zu betrachten. Jene Befragten, die für
die zweite Antwort optierten, liegen nicht falsch, wenn sie aus Gründen
biografischer Plausibilität schliessen, dass Linda eher Bankangestellte und
zugleich Feministin ist. Boshafterweise könnte man sagen, dass man in ihnen mit
dem Versuchsarrangement überhaupt erst jene kognitive Verzerrung hervorruft,
die man dann nachzuweisen sucht.
***
Anders
gesagt: man „schubst“ sie mittels ausgewählter Informationen zu einer
bestimmten Entscheidung an. Das erweist sich im heutigen Konsumuniversum als
von zentraler Bedeutung. Denn in ihm sind wir permanent mit gösseren und
kleineren Entscheidungen konfrontiert: Essen, Kleidung, Auto, Handy, Sportart,
Mobiliar, Ferienort, Arzt, Krankenkasse, Altersvorsorge, Stromanbieter,
Netzserver, Politiker – immer haben wir die Wahl. Das Angebot der Wahlmöglichkeiten
wächst stetig und ihre „Schubser“ versetzen uns quasi in einen metastabilen
Dauerzustand, in dem wir riskieren, vor lauter Möglichkeiten das Gleichgewicht
zu verlieren, das heisst nicht zuletzt: uns von falschen Entscheidungen leiten
zu lassen. Um aus ihnen zu lernen, hat der amerikanische Rechtswissenschafter
Cass Sunstein eine neue Politik vorgeschlagen, die er mit dem Begriff des
„Schubsens“ („Nudge“) umschreibt. Die
Schubs-Politik scheint bei Regierungen durchaus Anklang zu finden. Barack Obama
berief Sunstein zum Berater (2009 bis 2012). Die britische Regierung baute ein
„Behavioral Insights Team“ auf - informell bekannt auch unter dem hübschen
Namen „Schubser-Einheit“ („Nudge Unit“). In Frankreich, Australien und Brasilien trägt man sich mit ähnlichen
Plänen.
***
Auf
den ersten Blick hat diese Politik durchaus etwas für sich. Wir alle handeln
oft auf eine Weise, die wir bei eingehender Abwägung vermieden hätten. Wir
essen zu fett und trinken zuviel Alkohol, verschieben die Vorbereitungsarbeiten
für eine Prüfung, kaufen immer nur teure Markenkleider, werfen Esswaren mit
noch nicht verfallenem Datum in den Abfall, halten Verabredungen nicht ein ...
Solche Unvernünftigkeiten sind alltäglich. Meist haben wir schlicht keine Zeit,
uns auf ausgeklügelte Erwägungen einzulassen. Könnte uns da nicht eine entsprechend
gestaltete Umgebung – eine „Entscheidungsarchitektur“ - helfen, das „Vernünftige“ zu tun? Eine
Schulmensa präsentiert zum Beispiel gesunde Esswaren auf Augenhöhe der Schüler,
während sie Junkfood in eine weniger sichtbare Ecke relegiert - eine einfache
Entscheidungarchitektur. Ihr Prinzip: Nimm eine Schwäche der Schüler – Trägheit
der Aufmerksamkeit, die sich vor allem auf direkt vor den Augen Liegendes
richtet – , verbinde sie geschickt mit
einem Entscheidungsdesign – Anordnung des Essens - , und die Schüler werden in
Richtung „richtigen“ Essverhaltens geschubst. Auf eine ähnliche Weise liessen
sich die Bürger eines demokratischen Systems für gute Zwecke schubsen, für
Organspenden, Unterstützung von öffentlichen Bibliotheken in der Dritten Welt,
eine CO2-ärmere Lebensart oder den Kauf von Fair-Trade-Produkten.
Schubsen
setzt also bei menschlichen Schwächen – Gewohnheiten, Stereotypien, Trägheiten
– an, es versucht sie nicht primär zu korrigieren, sondern bloss sanft in eine
gewünschte Richtung zu lenken. Die Wahl hat nach wie vor das Individuum.
Schubsen liegt zwischen den Polen des regulatorischen Zwangs
(Gurtenobligatorium) und der emanzipatorischen Entscheidung aus eigenen Stücken
(Spende an UNICEF). Wenn Sunstein in diesem Zusammenhang von „aufgeschlossenem
Paternalismus“ spricht, dann meint er den emanzipatorischen und nicht den
regulatorischen Pol. Das heisst, letztlich dient Schubsen der Stärkung der
individuellen Urteilsfähigkeit.
***
Das
ist das Best-Case-Szenario. Wie aber steht es mit der Vertrauenswürdigkeit und
Kompetenz der Schubser? Gerade angesichts des Manipulationspotenzials heutiger
Technologie sind grosse Zweifel angebracht. Es klingt schon fast rührend, wenn
Sunstein uns versichert, dass Regierungen Berater wie ihn beschäftigen, die,
edel gesinnt, verschiedene Alternativen eines politischen oder ökonomischen
Kurses durchrechnen, ganz um des Bürgerwohls willen. Wenn uns also eine
öffentliche Politik zu einem vernünftigen Verhalten anschubsen will, dann ist
es immer angezeigt, zu fragen: Wessen Vernunft? Die Vernunft einer Elite oder
die Vernunft des individuellen Bürgers? Die Historikerin Barbara Tuchmann
schrieb schon 1984 ein Buch über die Torheit der Regierenden. Und der
Moralphilosoph Alasdair MacIntyre meldete seine Zweifel etwa zur selben Zeit
an: „Dem Konsumenten, dem Wähler, dem Individuum im Allgemeinen wird das Recht
zugestanden, seine Präferenzen in einem Angebot von Alternativen zu äussern,
das Spektrum diese Wahlmöglichkeiten wird hingegen gesteuert von einer Elite.
Selbst die Präsentation der Alternativen wird von der Elite kontrolliert.
Entsprechend hoch wertet (sie) im liberalen System (..) die Kompetenz der
überzeugenden Präsentation von Wahlmöglichkeiten – das heisst, die Kompetenz in
den kosmetischen Künsten.“
***
Die
Anthropologie des Schubsens ist von einem Rationalitäts-Pessimismus geprägt:
Der Kunde reagiert weniger auf Argumente, als auf Anreize. Das mag in vielen
Fällen zutreffen, aber die Schubs-Psychologen erheben diesen Satz zum Axiom,
zum Glaubensartikel. Er ist nicht empirisch zu bestätigen, sondern begründet
einen Typus von Empirie, die im menschlichen Verhalten vorab „Torheiten“ sucht.
Schubsen ist Torheits-Management. Das hat etwas Beleidigendes. Man nimmt mich
nicht als Subjekt wahr und ernst.
Vielleicht schubse ich mich ja selbst, aber dieses Schubsen ist ein Akt
der Autonomie, dem ein gewisses Nachdenken und Erwägen vorausging. Kant nannte
diesen Akt Handeln aus Einsicht, im Gegensatz zum Handeln nach Regeln. Ersteres
ist die Grundlage des mündigen Subjekts, in Politik und in Wirtschaft. Wir
mögen nicht so smart sein, wie wir meinen; aber doch immerhin smart genug, den
Unterschied zwischen beiden Handlungsarten zu bemerken. Dieses
Unterscheidungsvermögen bildet die Basis einer (noch zu schreibenden) Kritik
der konsumatorischen Vernunft.
***
Man
möchte Sunstein gerne glauben, wenn er beteuert, dass Schubsen im Dienst der
menschlichen Autonomie und Würde stehe. Nichtsdestotrotz manifestiert sich
darin eine gegenläufige Tendenz der externen Beeinflussung, als deren
Worst-Case-Szenario die Skinnerbox in Sicht kommt: Das ganze Konsumuniversum
der permanenten alltäglichen Entscheidungen als das Labyrinth von Laborratten,
die ein Schubser in die gewünschte Richtung lenkt. Nur zum Besten des
Konsumenten, versteht sich. Vergessen wir die Warnung Kants nicht: „Eine
Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters
gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung, wo also die
Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen
wahrhaftig nützlich und schädlich ist, sich bloss passiv zu verhalten genötigt
sind (..), ist der grösste denkbare Despotismus.“