Die Zeit, 22.Mai 2014
Die verlorene Unschuld der
Mathematiker
Im Januar 2014 unterzeichneten 50 Informatik- und
Kryptologieexperten einen offenen Brief, in dem die Regierungen der Welt
aufgefordert werden, den Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden die
Mittel an die Hand zu geben, sich auf die Fährten von Terroristen und
Kriminellen zu setzen, aber ohne „fundamentale Untergrabung jener Sicherheit,
die Handel, persönliche Kommunikation, Unterhaltung und andere Aspekte des Leben
im 21. Jahrhundert ermöglicht.“ Die Frage sei nicht, ob die NSA spionieren
dürfe, sondern jene der Wahl zwischen zwei kommunikativen Infrastrukturen:
einer, die in ihrem Kern verletzbar ist, und einer, welche die Sicherheit des
Nutzers zum Standard macht. Der Brief lässt gerade deshalb aufhorchen, weil er
von Leuten stammt, deren Arbeiten die Basis nachrichtendienstlicher Aktivitäten
abgeben. Normalerweise stellt man sich ja den typischen Mathematiker als einen
etwas weltfremden, anämischen Nerd vor, über den Witze kursieren wie: er kenne
sich in der Topologie der Knoten bestens aus, könne aber seine Schuhe selber
nicht binden. Dieses Bild, so es denn jemals mehr war als eine Karikatur, muss
geändert werden. Und wenn nicht alles täuscht, sind es die Mathematiker selbst,
die daran arbeiten.
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Die amerikanische Mathematikerin Cathy O’Neil berichtet in ihrem Blog „mathbabe“, dass Mitarbeiter der NSA in Schulen Ausschau nach vielversprechenden
Talenten halten würden, um diese dann für spezielle Sommerkurse der „spooks“ –
der Spione/Gespenster – zu rekrutieren. Höchst aufschlussreich ist dabei die
Problem-Raffinerie, zu der man diese Mathe-Rekruten heranbildet: „Zuerst wird
ein aktuelles Problem ausgewählt, dann wird zweitens daraus die Mathematik
extrahiert, und drittens wird es schliesslich so gereinigt, dass niemand mehr
wissen kann, was das ursprüngliche Problem eigentlich war.“ - Nun, genau so
stellt man sich normalerweise die Arbeit des Mathematikers vor: „gereinigt“ von
allen weltlichen und banalen – zwischenmenschlichen, politischen, ethischen
- Kontaminationen. Böser: reines Fachidiotentum
im Reich des Abstrakten. Noch 1940 konnte der britische Mathematiker Godfrey
Harold Hardy im Brustton des Elitären verkünden, „nie etwas Nützliches gemacht
(zu haben). Keine Entdeckung von mir hat je oder wird wahrscheinlich je, direkt
oder indirekt, zum Guten oder Bösen einen Unterschied zum Wohlergehen der Welt
machen.“
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Die Äusserung entbehrt nicht der Ironie. Hardy war ein Pionier der
Zahlentheorie, also exakt jener mathematischen Disziplin, die in der modernen
Codierung von Informationen buchstäblich eine Schlüsselrolle spielt, und von
der heute „das Wohlergehen der Welt“ wahrscheinlich stärker abhängt als einem
lieb ist. Dass Mathematik zu einer Waffe werden kann, offenbarte sich schon im
2. Weltkrieg, zu dessen Verkürzung Code knackende Genies wie Alan Turing
entscheidend beitrugen (Turing wurde auch schon als „Schutzpatron“ der NSA
bezeichnet). Das war die Geburtsstunde der modernen Kryptoanalyse, die heute
recht eigentlich ihre Hochzeit feiert. Verschlüsselungs-Software gehört in den
USA zu den Rüstungsgütern. Der Entwickler des öffentlichen Kryptosystems
“Pretty Good Privacy“ (PGP), Phil Zimmermann, sah sich dem Vorwurf ausgesetzt,
ein Waffenhändler zu sein. Wenn nicht alles täuscht, befinden wir uns heute in
einem regelrechten Schlüssel-Krieg; leben wir in einer Zeit, da eine Formel womöglich
die gleichen – wenn nicht sogar die grösseren - Verheerungen anrichten kann wie
eine Atombombe.
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Ironie dahingestellt, das Nervensystem unseres telekommunikativen
Lebens ist zutiefst mathematischer Natur. Denken wir an Vernetzung, Information
und deren Verschlüsselung, Automatisierung unserer Tätigkeiten, um die
wichtigsten Elemente zu nennen. Nur schon unsere Bankomat-Karte ist mit ihrem
eingebauten Chip ein kleines Wunderwerk mathematisch-technischer Ingeniosität
der letzten Dekaden. Ein Grossteil des Verkehrs im Internet beruht auf einem
Verschlüsselungs-Verfahren, das drei Mathematiker 1977 entwickelten: dem
RSA-Algorithmus, benannt nach seinen Designern Ronald Rivest, Adi Shamir und
Leo Adleman. Eine ausgesuchte mathematische Tüftelei, die unter anderem auf dem
Problem beruht, eine grosse Zahl in zwei – meist hundertstellige - Primfaktoren
zu zerlegen, und aus diesen einen öffentlichen (für den Codierer) und einen
privaten Schlüssel (für den Decodierer) zu konstruieren. Man braucht dafür
Kenntnisse einer speziellen, der sogenannt modularen Arithmetik. Weil dies eine
zeitaufwendige Aufgabe selbst für Computer ist, gilt die RSA-Verschlüsselung
als sehr sicher.
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Was nicht bedeutet, dass sie nicht zu knacken wäre. In der Tat
haftet ja einem Code das attraktive „gewisse Etwas“ umso mehr an, je
undurchdringlicher er sich in die Aura der Unknackbarkeit hüllt. Zumal den
Geheimdienst kann so etwas nicht gleichgültig lassen, deshalb setzt er „seine“
Mathematiker auf das Problem an. Ein Schnüffler-Hirn kann verschiedene Wege zum
Geheimnis aushecken. Zum Beispiel die Infiltration. 1982 gründeten Rivest,
Shamir und Adleman die Sicherheitsfirma RSA Security, um ihre Software zu
vermarkten. Dank Snowden wissen wir jetzt, dass die NSA mit RSA Security
vereinbarte, deren Zufallszahlen-Generator so zu frisieren, dass er für den
Geheimdienst leicht entzifferbar wurde. Auf ähnliche Weise nimmt die NSA Firmen
und Behörden – kraft eines Gesetzesentwurfs aus dem Jahre 1991 - in die
Pflicht, sogenannte „Hintertüren“ in ihre Produkte einzubauen, durch welche die
Abhörer bei Bedarf in die geheimen Gewirke gelangen können. Es ist, wie wenn
ein fremdes Nervennetz stetig seine Dendriten in mein Gehirn einspeiste und
allmählich zu meinem eigenen würde. Solche Machenschaften als „Orwellsch“ zu
bezeichnen, wäre schiere Untertreibung.
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Ein anderer Weg ist natürlich „mehr Forschung“. Und gerade hier
manifestiert sich die Ambivalenz der modernen Kryptologie. In der NSA kursiere
der Spruch „Kryptoanalyse wird immer besser, nicht schlechter,“ schreibt
Michael Eisen im Techno-Magazin „Wired“ vom 9.4.2013. Das lässt sich als
Drohung und als Hoffnung interpretieren. Wir wissen nicht, welche Durchbrüche
und Revolutionen in der Kryptologie noch vor uns liegen. Nur schon das Reich
der natürlichen Zahlen ist ein kaum erforschter Urwald. Von grosser Bedeutung
erweisen sich leistungsfähige Algorithmen, welche die Rechenzeiten mühseliger
Verfahren verkürzen. Grosse Hoffnung wird in sogenannte Quanten-Algorithmen
gesetzt, Verfahren, die auf spezifischen, sogenannt verschränkten Zuständen von
Atomverbänden beruhen. Auch hier ist die Forschungsarbeit zu einem wesentlichen
Teil mathematischer Natur. Dass die NSA grösstes Interesse daran hat, ist
evident. So unterstützt sie die Forschung einerseits in ihren eigenen
„Top-Secret“-Abteilungen; andererseits sucht sie quasi nach Affiliationen, nach
„Tochter-Forschung“ an Universitäten.
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Und hier wächst die Sorge. Könnte es sein, dass sich so etwas wie
eine Ethik der Mathematik regt? Einzelstimmen lassen sich vermehrt vernehmen.
Im August 2013 veröffentlichte der Mathematiker und Sachbuchautor Charles Seife
einen „Offenen Brief an seine ehemaligen NSA-Kollegen“. Von 1992 bis 1993 hatte
er als Student bei der National Security Agency gearbeitet. Seife brachte das
öffentlichkeitsscheue Klima zur Sprache, das im Innern der Agency herrscht und
seine verführerische Wirkung auf einen jungen Wissenschafter ausübt. Zwei
Motive seien dabei wirksam: „Erstens war Mathematik sexy. Das klingt in den
Ohren von Nicht-Mathematikern seltsam, aber bestimmte Probleme verströmen nun
mal ein gewisses Etwas – das Gefühl, an etwas besonders Wichtigem
mitzuarbeiten; und die Lösung in Griffweite zu wissen.(..) Zweitens motivierte
uns – so dachten wir jedenfalls – die idealistische Vision, für unser Land
etwas tun zu können. (..) Sogar als Neuling fühlte ich die Chance, in kleinem
Masse etwas zu bewegen.“
Seife wendet sich an seine Kollegen, weil er sich in seinem
Idealismus verraten fühlt. Der Algebraiker Tom Leinster von der Universität
Edinburgh hat in der Aprilausgabe 2014 des „New Scientist“ die Mathematiker
aufgerufen, wachsamer zu werden und nicht mehr als Kopflanger
dubios-undurchsichtiger Projekte zu arbeiten. Pointiert könnte man sagen: Es
gibt kein „reines“ mathematisches Wissen, das nicht irgendwann von
irgendjemandem zu irgendwelchen „unreinen“ Zwecken benutzt werden könnte. „Kryptoanalyse
wird immer besser“ lässt sich deshalb auch so interpretieren: Zur intellektuellen
Statur eines Mathematikers gehört heute das Bewusstsein seiner Position, die er
in einer mathematik-abhängigen Gesellschaft innehat.
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Aber kann eine solche Gesellschaft überhaupt noch offen sein? Wir
verschränken uns immer mehr mit automatischen Systemen. Und mit zunehmend
leistungsfähigeren Computern wird die Frage, welches Recht auf Verschlüsselung
der Bürger und welches Recht auf Entschlüsselung der Staat hat, immer mehr auf
ein beunruhigendes Dilemma hinauslaufen: je besser die Mittel, die unsere
Sicherheit garantieren, desto besser können sie sich auch gegen unsere Freiheit
wenden. Es ist der Preis der modernen Telekommunikation und der digitalisierten
Demokratie. Wir können das Dilemma nicht mit einem Patentrezept – höchstens
fallweise - lösen. Anders gesagt: Wir müssen mit ihm leben lernen. Dazu
brauchen wir auch mehr Charles Seifes und Tom Leisters: politisch alerte
Experten. Jede Gesellschaft hat die Kryptographen, die sie verdient.
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