Donnerstag, 25. April 2024

 


Der «Verzehr» des Partners

Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr

Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urteilskraft, sondern auch am Fleisch. Zumal an den libidinösen Regungen des Menschen. Und er lieferte eine Definition des Sexualverkehrs, die schon fast ans Obszöne grenzt: «Verzehr» des Partners. Natürlich redete Kant nicht irgendwelchen perversen sexuellen Praktiken das Wort. Es gibt «zweyerley Genuss eines Menschen von dem anderen (des fleisches): der cannibalische oder der wollüstige Genuss. Der letztere lässt die Persohn übrig.»

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Kant wollte den Menschen aus dem «Reich der Notwendigkeit» – der Natur – ins «Reich der Freiheit» – der aufgeklärten Gesellschaft mit ihren Rechten – führen. Diesem Ziel muss auch der Geschlechtstrieb unterworfen werden. Von Natur aus sind die menschlichen Geschlechtsteile eigentlich «Zeug» zum Fremdgebrauch. Aber habe ich ein  Recht auf den Gebrauch deines Körpers? Das ist die typische Frage Kants – die Legitimitätsfrage «quid juris». 

Und sie enthüllt ein moralisches Dilemma. Ich gebrauche den Körper des Partners ja als Ge-nussmittel. Für Kant die schwerste Verletzung der Menschenwürde - eine «läsio enormis». Die menschliche Person ist unantastbar. Sie darf nie zur Sache, zum Mittel gemacht werden. Aber genau das geschieht im Geschlechtsakt. Der Geschlechtstrieb ist eine sinnliche Neigung, in der ein «Principium der Erniedrigung der Menschheit» liegt. Diese Neigung richtet sich auf eine ande-re Person, aber nicht auf ihr Personsein, sondern auf ihren Körper als Genussmittel. 

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Wie kann man sich dann befriedigen, ohne den Partner in seiner Würde zu verletzen? Kant wäre nicht Kant, rückte er dem Problem nicht mit der nötigen analytischen Schärfe zu Leibe. Und zwar erkennt er eine Ausnahme vom ethischen Gebot, dass man einen Menschen nie zum Mittel machen dürfe. Die Bedingung dafür ist, «dass, indem die eine Person von der anderen, gleich als Sache, erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe, denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her».

Eine einigermassen gewundene Lösung des Problems. Einfacher und anziehender lautet sie: Man gibt sich weg und erhält sich zurück. Aber diesen gegenseitigen Erwerb garantiert nur der Ehevertrag. Kant definiert die Ehe als Geschlechtsgemeinschaft - «commercium sexuale»: «Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen, wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften». In der Ehe gehört «jeder theil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur proprietät des andern (...) und umgekehrt, also zur proprietät der Gemeinschaft». Interessant dabei ist, dass das Ziel dieser Gemeinschaft nicht primär das Zeugen, sondern eben die Sexualität ist. Wir haben, so Kant, «keinen instinct (...), der unmittelbar auf die propagation gehet, aber wohl einen, der unmittelbar aufs Geschlecht gehet». 

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Die Würde der Person wird also im ehelichen Geschlechtsakt nicht verletzt, weil hier sozusagen zwei Menschen zu einer Person verschmelzen. Man sagt ja «Ich bin dein und du bist mein». Ich habe das Recht an dir als Genussmittel, weil du das Recht an mir als Genussmittel hast. Kant drückt das so aus: Aus «Zweyen ist eine moralische Person» geworden. Und hier zeigt sich das Neuartige an seiner Auffassung. Sie emanzipiert den Geschlechtsakt von der natürlichen «Aufgabe» der Fortpflanzung, rückt ihn eben ins Reich der Freiheit, des Menschenrechtlichen. Kant be-trachtet Kopulieren nicht nur als Reproduktionsmittel, sondern als Genussmittel. Deshalb sieht er darin auch eine Spielart des Kannibalismus, einen «Verzehr», der sich noch heute im Ausdruck «zum Fressen gern» zu erkennen gibt. Im Küssen verbirgt sich ein solcher versteckter Kanniba-lismus…

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Kants Auffassung – und das ist doch überraschend - emanzipiert auch die Homosexualität. Oder sagen wir es so: Wenn er den Geschlechtsverkehr von der natürlichen Reproduktion abkoppelt, dann führt ihn das auch dazu, das gleichgeschlechtliche «commercium» in Betracht zu ziehen. Zwar ist für Kant Homosexualität «contra naturam: «Die Homosexualität läuft wider die Zwekke der Menschheit, denn der Zwek der Menschheit in Ansehung der Neigung ist die Erhaltung der Art ohne Wegwerfung seiner Person (..) hierdurch versetze ich mich unter das Thier und entehre die Menschheit». 

Der Homosexuelle «entehrt» Mensch und Tier. Das klingt grausam. Aber seine eigene Logik stellt Kant ein Bein. Emanzipierte Sexualität beruft sich gerade nicht auf «die Erhaltung der Art», sondern auf gegenseitigen Genuss unter Wahrung der Personenwürde. Warum sollte das nicht auch für Homosexuelle gelten? Sind sie etwa keine Personen? Können sie nicht auch zu einer einzigen «moralischen Person» werden?  Und warum sollte dann aus menschenrechtlicher Perspektive nicht auch der Ehevertrag zwischen Gleichgeschlechtlichen sie vor dem «crimen carnis» - dem fleischlichen Verbrechen - schützen, wie Kant dies nennt? Zudem kann man Homosexualität nicht als naturwidrig disqualifizieren. Sie kommt in der Natur vor, häufiger als man gemeinhin denkt, auch wenn das Kant vielleicht nicht gewusst haben dürfte. 

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Nichts liegt mir ferner, als Kant apologetisch zum Vorläufer der heutigen Genderbewegung hochzustilisieren. Er blieb der damaligen bürgerlichen häuslichen Ordnung verpflichtet, war mariniert in den Voreingenommenheiten seiner Zeit. Nun ist es nachgerade zur billigen Mode geworden, der Aufklärung «Rassismus», «Sexismus», «Machismus», «Kolonialismus», «Ratiozentrismus» vorzuhalten. Indes bleibt Kants Idee äusserst akut und brisant: Das Verfügungsrecht über den personalen Körper – dieses säkulare «Heiligtum» - ist ein Menschenrecht. 

Brisant ist die Idee zumal, weil offenbar die katholische Kirche sich schwer tut mit ihr. Das dokumentiert jüngst die päpstliche Erklärung «Dignitas infinita».  Das Verfügungsrecht über den Körper ist ein Dorn im päpstlichen Auge: «Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gen-der-Theorie vorschreibt, bedeutet (..) der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart». Würdig ist der Körper nur als Exekutivorgan der evangelischen Gesetzgebung. Also ein Mittel zum Zweck, nämlich dem Zeugen von möglichst vielen Katholiken. Ist das nicht ein Verstoss gegen Kants Gebot der Instrumentalisierung?

Kant weist dem aufgeklärtem Gebrauch der Wollust eine emanzipatorische Rolle zu. Der wollüstige Genuss «lässt die Person übrig». Er stärkt sie. Und vielleicht ist es gerade das, was die Kirche so fürchtet: dass die Wollust unter der Soutane tut, was sie – und nicht Gott - will. 





Samstag, 20. April 2024



NZZ, 9.4.24

Sokrates und der ChatGPT

Schreiben in der postliterarischen Welt


Die Schrift ist eine alte Technologie. Aber als sie neu war, erhob sich ein Lamento über den Niedergang der Kultur infolge der «Technisierung des Wortes». Platon hielt bekanntlich nicht viel vom geschriebenen Wort. Die Schrift spricht nicht zurück. Nur der Dialog bringe uns der Wahrheit näher.  

Was würde Platon über die neue Technologie der Textgeneratoren sagen? An einer Stelle im Dialog «Phaidros» gibt der platonische Sokrates Auskunft. Die Schrift verleihe «den Schülern (..) nur den Schein der Weisheit, nicht die Wahrheit selbst. Sie bekommen (..) vieles zu hören ohne eigentliche Belehrung und meinen nun, vielwissend geworden zu sein, während sie doch meist unwissend sind und zudem schwierig zu behandeln, weil sie sich für weise halten, statt weise zu sein (..) Im Vertrauen auf die Schrift suchen (die Schüler) sich durch fremde Zeichen ausserhalb, und nicht durch eigene Kraft in ihrem Innern zu erinnern». 

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Man ersetze die Schrift durch den ChatGPT, und Sokrates’ Kritik ist à jour. Es geht dabei nicht um die Technik, sondern um das Verhältnis von Technik und Mensch. Technik ist, um hier eine gängige Formel zu gebrauchen, das Delegieren menschlicher Vermögen an Geräte. Wir delegieren das Erinnern an das «Gerät» Schrift, so Platon, deshalb verkümmert dieses Vermögen und führt zur Dekadenz der mündlichen Kultur - letztlich des Denkens. 

Nun bekommen wir vom ChatGPT in der Tat «vieles zu hören, ohne eigentliche Belehrung». Sein Können, sagen wir, liege schlicht darin, aus einer Bitfolge mittels eines Transformer-Algorithmus eine neue Bitfolge zu generieren. Na und? Nenne man dies nun «schreiben» oder auch nicht. Wenn sich der maschinengenerierte Text oft nicht mehr vom menschengenerierten unterscheiden lässt, kann man getrost  auf den Unterschied zwischen der Simulation von Schreiben und Schreiben verzichten. 

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Diese steile These zielt direkt auf das Herzstück unserer Kultur, die Bildung. Und Bildung heisst heute primär: Kompetenzen lernen. Das tun auch Maschinen. Sie lernen, Schreiben zu simulieren. Warum sollte da der Schüler hintanstehen? Wem bescheinigen wir jetzt Autorschaft? Dem Hybrid Schüler-Maschine? Eine postliterarische Welt zeichnet sich ab, in der die Schriftkundigkeit als altehrwürdige Kulturtechnik an Bedeutung zu verlieren scheint. Blüht dem Schüler der «Tod des Autors», um die Situation mit Roland Barthes’ berühmtem Diktum zu dramatisieren? 

Hier meldet sich Platons These, dass der Dialog die höchste Ausdrucksform menschlicher Argumentation sei, überraschend zurück. Wenn man Texte ohne Anstrengung generieren kann, liegt die eigentliche Leistung nicht im Schreiben, sondern im Lesen. Warum dann zum Beispiel nicht den Schüler «seinen» Text selber lesen, interpretieren und Schlussfolgerungen daraus ziehen lassen? Denkbar wäre auch, dass der Schüler mit «seinem» Text nichts Endgültiges, sondern Ausgangsmaterial abliefert, anhand dessen er nun seine Kompetenzen «coram publico» vorzuführen hat, im Diskurs, buchstäblich: im hin und her gehenden Gespräch mit der Lehrperson und den Mitschülern. 

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Die Ironie springt jedenfalls ins Auge: Kultur entwickelt sich von der Oralität über die Literalität zur Digitalität – und wieder zurück zur Oralität. Das ist kein Rückschritt, sondern Dialektik der Technik. Wir haben im Zuge des Fortschritts so viel Können an die Maschinen delegiert, dass sich jetzt die Frage stellt: Was wollen wir Menschen denn eigentlich noch können? 

Als Erstes muss man den gebannten Blick vom ChatGPT lösen und das ausschliesslich technische Verhältnis zum Text hinterfragen, das er definiert. Was lernen wir eigentlich mit dem Schreiben? Nur Texte generieren? Nicht etwa auch, den Blick für all die Nuancen in der Welt schärfen? Zu erfahren, wie Begriffe und Ideen entstehen? Diskursiv das Wahre vom Falschen trennen? Die Perspektive anderer Menschen kennen lernen? Und: Ist beim Schreiben der Weg nicht oft wichtiger als das Ziel? 

Solche Fragen verleihen einem zentralen Begriff Platons Aktualität: Wiedererinnerung. Seiner metaphysischen Bedeutung entkleidet  lässt er sich so interpretieren: Die Maschine «erinnert» den Menschen daran, was er eigentlich kann. Sie hebt die traditionellen Kulturtechniken aus der unreflektierten Selbstverständlichkeit. Platon nennt das «Mäeutik»: Hebammenkunst. Sie wiese heute der Schule eine «geburtshelferische» Aufgabe zu. Diese bestünde nicht zuletzt im Wiederaufwärmen eher verpönter mündlicher Techniken wie etwa Rezitieren oder Diktat. Das hat nichts mit altem Schuldrill zu tun, sondern mit der Schärfung des Unterscheidungsvermögens zwischen dem, was der Schüler selber können, und was er an die Maschine delegieren will. Gerade das Delegieren ist ja die ständige Verführung, «sich für weise (zu) halten, statt weise zu sein». 

Sokrates wendet sich nicht radikal gegen die Schrift. Sie ist dann nützlich, sagt er, wenn sie «in der Seele des Lernenden» weiter geschrieben wird. Eine altmodische Definition echter Bildung. Versteht man sie noch?



Dienstag, 9. April 2024



Das Monster in uns
Der Hang zum Unmenschlichen ist menschlich


Jüngst war in den Medien von den «Hamas-Monstern» die Rede. «Yahia Sinwar – das Monster von Gaza». Solche Dämonisierung – oder genauer «Monsterisierung» -  ist gang und gäbe. Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Regelmässig bezeichnet man Untaten, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, als «monströs». Den Titel «Monster» reservieren wir – oft auf  heimlichem hohem Erregtheitsniveau - für Menschen, deren Handeln, Beweggründe, deren ganzes psychisches und intellektuelles Universum sich unserem Verständnis entzieht. Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung; «monstrare» bedeutet zeigen und warnen. 

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Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen uns töten, von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier. 

Zum Monstersein braucht es eine andere, nichtphysische Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Monster passen in kein Kategoriensystem, sei dies natürlich oder kulturell. Sie sind ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen kognitiv nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Gerade diese Virtualität – das Gerücht, der Verdacht - macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Der Andere gehört nicht zu «uns» und gehört doch zu «uns». Eine solche  widersprüchliche und «gefährliche Nähe» macht ihn unheimlich, weil die binäre Logik ihn nicht fasst. Das erinnert natürlich an den altbekannten psychoanalytischen Topos: die Nähe des Unheimlichen zum Heimischen, des Ungeheuren zum Geheuren. Wohl deshalb auch das verbreitete Unbehagen gegenüber den Non-Binären.

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Im Monster kommt die wohl ungeheuerlichste Paradoxie des Menschen zum Vorschein: eine Person unmenschlich traktieren, weil sie menschlich ist. Gewöhnlich nehmen wir Artgenossen spontan als Mitmenschen wahr. Aber immer wieder mischt sich in diese Wahrnehmung die Ideologie des «Untermenschentums» ein, die uns suggeriert, gewisse Mitglieder unserer Spezies seien nicht «eigentlich» menschlich. Wir kennen die Ideologie sattsam aus den Traktaten der Nazis oder der weissen Suprematisten. Jüngst auch aus dem Mund des stellvertretenden Bürgermeisters von Jerusalem, Arieh King. Er erklärte angesichts von fast nackten Palästinensern, die in einer Sandgrube festgesetzt worden waren: Könnte er  entscheiden hätte er die Gefangenen mit Bulldozern lebendig begraben; sie seien keine Menschen oder menschliche Tiere, sondern Untermenschen.  

Wie stark und nachhaltig freilich diese toxische Indoktrination auch wirken mag, sie verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, sie spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Diese seltsame «gespaltene» Denkart ist in uns allen angelegt. Und sie wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Beschlag nimmt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das im Tierreich eine Ausnahme ist: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet total. Die Hamas-Terroristen sahen in ihren Opfern zweifellos Menschen, und gerade weil diese Opfer Menschen waren, wurden sie unmenschlich behandelt. 

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Wir sind offenbar anfällig für diese eigentümliche «normale» Geistesgestörtheit. Es bedarf dazu gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni progromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer».   

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die «einleuchtende» Logik der Unmenschlichkeit, vom Dorfprogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda. Der Sadismus, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. 

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Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln anderer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Es gibt zahlreiche soziale Praktiken, die vom «gespaltenen» entmenschlichenden Geisteszustand gestützt werden. Einige, wie das Lynchen in der «Jim Crow»-Ära der USA, gründen in alten Traditionen, andere, wie die industrielle Vernichtung «unwerten» Lebens  in Nazi-Deutschland, sind «fortgeschrittenere» Formen der Entmenschlichung. 

So oder so, der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich. Wir sollten also Humanität auch vom entgegengesetzten Pol des Spektrums - der Monstrosität - her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung». Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Auschwitz immer möglich sei. Indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen, können wir es konfrontieren – mit uns selbst. 











Mittwoch, 27. März 2024

 



Terrorismus als Spektakel

Der Spektakel-Terrorist will als jemand gelten. Terrorismus ist – auf seine infame Art - immer auch ein Streben nach Bedeutsamkeit – Bedeutsamkeit durch Gewalt, Massaker, Greueltat. Deshalb eignet ihm etwas Theatralisches. Er setzt Unmenschlichkeit als Spektakel ein, und rechnet mit dem Entsetzen eines nach News gierenden Weltpublikums. 

Terroristen sehen sich häufig als Akteure, die einem Drehbuch folgen – eines von Gott oder von der Geschichte oder von irgendwelchem metaphysischen Gespenst geschriebenen. Dieses Drehbuch weist ihnen die Rolle in einem Drama zu, das oft die Menschenverbesserung zum Ziel hat. Fies daran ist, dass Terroristen andere nö-tigen, gemäss diesem Drehbuch mitzuspielen. In ihren «Spektakeln» ertönt allerdings nicht Theaterdonner und fliesst nicht Theaterblut, sondern rattern reale Kalaschni-kows und verlieren reale Menschen reales Blut. Gerade dadurch können Terroristen der nachwirkenden öffentlichen «Rezeption» sicher sein. Der Einsturz der Twin To-wers war theatertauglicher – symbolischer - als der Angriff auf das Pentagon. Man traf quasi die architektonische Erektion des Kapitalismus.

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Die Verurteilung von terroristischen Exekutionen, Entführungen, Enthauptungen Unschuldiger fällt leicht. Vor allem unter Politikern, die notgedrungen das Spektakel der Terroristen mitspielen müssen und entsprechend theatralisch auftreten. 2015, nach dem Blutbad im Pariser Klub «Bataclan», reisten viele Spitzenpolitiker Europas nach Paris zur Demonstration gegen den Terror. Im gleichen Jahr massakrierten Mitglieder von Boko Haram in Baga, Nigeria, Hunderte von Menschen. Warum demonstrierten die Politiker nicht auch gegen diesen Terror? Weil ihnen das Spektakel in Paris den Platz an der politischen Sonne optimal sicherte. Genau das will auch der Terrorist. Mit welchem ideologischen Brimborium er sich rechtfertigt – Kalifat, globale Umma, Krieg gegen die Ungläubigen - , er spielt mit im Kampf um Aufmerksamkeit, um Prime Time, Einschaltquote, Schlagzeilenplatz. 

Viele - fast ausschliesslich – junge islamistische Gewalttäter, die oft ohne Aussicht auf eine «zivile» Zukunft leben, sehen im Terror den Köder für die mediale Auf-merksamkeit. Der Terror wir erst «real», wenn ihn die Bilder zeigen. Die wichtigste Waffe des Spektakel-Terroristen ist neben der Kalaschnikow die Handykamera. Hier offenbart sich Nihilismus, der sich als Märtyrertum aufplustert. Und durch seine virale Verbreitung weltbühnentauglich wird. Auf abartige Weise zum Thrill. Er unterstützt die überall verbreitete Wollust, zu schauen und beschaut zu werden. 

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Man erinnert sich unweigerlich an die «Gesellschaft des Spektakels» des französi-schen Schriftstellers, Filmers und «Situationisten» Guy Debord. Nach ihm sollte die künstlerische Avantgarde die Konsumgesellschaft mit «Terror» überziehen, das heisst, nicht Kunstwerke, sondern neue spektakuläre Situationen des Lebens schaf-fen: Verwirrung stiftende Aktionen gegen die bourgeoise Kultur, wie sie sich in Paris 1968 ereigneten; keineswegs nur harmlose, sondern an der Grenze zum wirklichen Terrorismus  - wie etwa der Versuch, den Eiffelturm in die Luft zu sprengen. Aller-dings wurde dem Säufer und Wüterich Debord bald etwas mulmig zumute.  In den 1970er Jahren warnte er vor dem «Spektakel des Terrors». Als hätte er geahnt, dass sich fünzig Jahre später die Islamisten zu seinen gelehrigsten Schülern entwickeln würden. Sie sind auch «Situationisten». Aber sie verstehen keinen Spass. Bei ihnen kippt das Spektakel in blutigen Ernst.

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Der Spektakel-Terrorist braucht die Aleatorik des Schreckens – er schlägt mal hier, mal dort zu. Je weniger politische Gewalt in einer Gesellschaft herrscht, desto grösser die traumatisierende Wirkung einer punktuellen Gewalttat, die nicht vorauszusehen ist. Jede solche Tat verhöhnt den Staat: Schau, du bist nicht im Stande, deine Bürger zu schützen! Traditionellerweise begründet sich der Terrorismus als Widerstand ge-gen Gewaltverhältnisse. Nicht so der Spektakel-Terrorist. Er kämpft ja nicht gegen Widerstände, sondern nutzt schamlos die Verletzlichkeit anderer Menschen als Festivalbühne seiner blutigen Punk-Show aus. 

And the show must go on. Die bisher letzte Folge in dieser Staffel terroristischen Spektakels stammt nun ausgerechnet nicht aus einer liberalen Gesellschaft, sondern aus Russland, wo am 22. März vier Terroristen ein Blutbad in einer Moskauer Kon-zerthalle anrichteten. Der Inlandgeheimdienst demonstrierte, wie er mit – nota bene nicht verurteilten - Attentätern verfährt: Folter, Misshandlung, totale Erniedrigung - Entmenschlichung. Als hätte der russische Staat nur auf einen terroristischen An-schlag gewartet, um nun seine eigene Terrormaschinerie in Gang zu setzen. Die alte Tradition der kommunistischen Schauprozesse. Sie kann mit der Schaulustigkeit der Welt rechnen. Terrorist und Häscher spielen das gleiche Spiel. Sie haben grösstes Interesse daran, dass der Geist des Spektakels in unseren Schädeln Platz greift. Und in diesem Geist schauen wir auf all die Bilder des Greuels, sagen «Wie furchtbar!» und können nichts tun. Susan Sontag hat dies mit brutaler Offenheit ausgedrückt: «Für viele Menschen in den meisten modernen Kulturen sind Chaos und Blutvergiessen heute eher unterhaltsam als schockierend». Und so verfestigen wir die Conditio inhumana, das Leben im Zeichen von Terror und Horror, schwankend zwischen Zynismus und Apathie. 






















Donnerstag, 7. März 2024

 



Nature Writing – ein missverstandenes Genre


Vor genau fünfzig Jahren sorgte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel für Perplexität in der philosophischen Welt mit seiner Frage «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?». Eine solche Frage war ungewohnt, weil das Problem des «Fremdpsychischen», wie man es in einschlägigen Kreisen nannte, sich doch eher auf Menschen beschränkte, und die Befindlichkeit von Tieren - ihre artspezifische Perspektive – kein Thema von hohem Diskussionswert war. 

Das hat sich geändert. Die Frage ist nicht bloss philosophisch von Belang, sie führt uns eigentlich mitten ins Herz der ökologischen Krise, der Entfremdung des Menschen von der Natur. Heute lautet die Frage  nicht nur, wie es ist, dieses oder jenes Tier zu sein, sondern, wie man dieses oder jenes Tier sein kann. «Being a Beast» lautet zum Beispiel der Titel eines Buchs des britischen Tierarztes, Rechtsanwalts und Schriftstellers Charles Foster aus dem Jahr 2016 (deutsch «Der Geschmack von Laub und Erde»). Er liess sich auf ein skurriles Experiment ein. Er wollte nicht bloss ein Verhaltensforscher sein, sondern sich selbst wie ein Tier verhalten. Nicht einfach den Dachs beschreiben, sondern am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man in einer Erdhöhle haust, durch Gras und Farn kriecht, den Waldboden erschnüffelt, Würmer zerbeisst. Oder wie der Otter im kalten Bach auf Fische lauert. Oder wie der Fuchs in Stadtparks und stinkenden Hinterhöfen lebt, sich von Abfällen ernährt. 

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Bücher wie jenes von Foster begründen schon seit längerem ein eigenes Genre: Nature Writing. Kurz gesagt, handelt es sich um das Bemühen, im Zeitalter des Anthropozäns das Verhältnis Mensch-Tier sozusagen literarisch umzukehren, es aus tierlicher Perspektive zu sehen. Man sucht sich vom anthropozentrischen Blick auf das Tier zu lösen, der in der «westlichen» Kultur bislang vorherrscht. Und da dieser Blick primär von der zivilisierten Lebensweise moderner Ge-sellschaften geprägt ist, erweist sich die Frage nach dem Tiersein immer auch als implizite Kritik an einer Haltung, die das Wilde, Ungezähmte, Unkontrollierte – eben: Animalische - nicht tolerieren kann.  

Das Genre erfreut sich grosser Beliebtheit, was sich durchaus als Anzeichen einer ökologischen Sensibilität in gewissen Leserkreisen deuten lässt. Seit 2017 gibt es einen Preis für Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur. Die Verabschiedung von einer gängigen anthropozentrischen Naturbeschreibung kann im Besonderen zu ziemlich extravaganten Beispielen führen, wie etwa der Erfahrung, von einem Krokodil fast gefressen zu werden. Die australische Ökophilosophin Val Plumwood hat dieses existenzielle Ereignis in ihrem Buch «The Eye of the Crocodile» (2013) geschildert. Sozusagen aus der Perspektive «Wie ist es, ein Stück fressbares Fleisch zu sein?» 

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Die Frage hat zweifellos das Zeug, das Selbstverständnis des Menschen zu erschüttern, indem sie ihn gewissermassen in die natürliche Nahrungskette eingliedert. Ob man auf diese Weise ein «authentischeres» Verständnis des Tierlebens gewinnt, bleibt dabei allerdings fraglich. Und so gesehen ist das Bemerkenswerteste an Charles Fosters Stunts in der Tierwelt seine ehrliche Selbstkritik. Hat das Ganze nicht eher den Charakter des Varieté-Zaubers? Foster vergleicht sich mit einem Naturschausteller. « ‘Hereinspaziert, hereinspaziert!’ rufe ich, ‘Kommen Sie und sehen Sie den Tiger. Nur 15 Dollar pro Blick.’ Aber wenn ich die 15 Dollar eingesackt und das Publikum zwischen zwei Buchdeckel gelockt habe, ist kein Tiger zu sehen – nur ein linkisches Porträt meiner selbst». Auch wenn wir also wüssten, wie es ist, eine Fledermaus, ein Dachs, ein Krokodil zu sein – und ich glaube nicht, dass wir das können -, wäre unser Wissen menschlich «kontaminiert». Wie präzise und einfühlsam – «schamanistisch» - man ein Tier beschreibt, die Beschreibung macht einen nicht zum Tier.

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Wozu auch? Eigentlich geht es im Nature Writing nicht um die Natur, sondern um die Lesbarkeit der Natur. Sie steht seit dem 17. Jahrhundert im Zeichen einer dominierenden Metapher: des Buches der Natur, das in mathematischen Lettern geschrieben ist. Darin äussert sich, etwas allgemeiner formuliert,  der Anspruch, die Natur am besten in der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache zu verstehen. Und als Repräsentantin dieses Anspruchs gilt die Frage aus der ethologischen Distanz «Wie verhält sich ein Tier in seiner Umwelt?». Sie klammert genau die andere Frage «Wie ist es, ein Tier zu sein?» aus. Paradox daran ist, dass man die Frage letztlich nicht beantworten kann, und sie trotzdem immer wieder stellt, als ob sich darin eine tiefsitzende Sehnsucht nach dem nichtmenschlich Anderen äusserte. Man versucht, in der Imagination auf die «andere Seite» der Natur hinüberzusetzen. Wie das traditionellerweise die Fabel tut. 

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Letztlich ist Nature Writing nicht alternative Naturkunde, sondern antwortet auf einen Befund, den man Naturanalphabetismus nennen könnte. Davon berichtet der britische Schriftsteller Robert Macfarlane in seinem Buch «Landmarks» (2015). Er weist auf ein Symptom des Naturanalphabetismus hin. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, MP3-Player, Voice-Mail. 

Nichts drückt den fundamentalen Wandel gegenüber unserer Umwelt drastischer aus als dieser Vokabularwandel. Eine unscheinbare, aber symptomatische Verschiebung. Wie Macfarlane schreibt, manifestiert sich darin nicht nur ein Wahrnehmungsschwund, sondern auch der Verlust einer «Art von Wortmagie: einer Kraft, die bestimmte Begriffe besitzen, um unser Verhältnis zur Natur und ihren Orten zu verzaubern.» Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Vokabular der Imagination zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur eine Seite der Naturverödung ist. 

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Und genau hier, im Arbeiten gegen diesen Trend, gewinnt Nature Writing meines Erachtens seine genuine Bedeutung. Das Genre weitet seinen Horizont über das Organische hinaus. So beschreibt zum Beispiel die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem Buch «Schiefern» (2020) poetisch ehemalige Schieferabbaugebiete auf den Hebriden. Verlassenes, steiniges, postindustrielles Gelände, dem sie zu «schiefriger Mundart» verhilft, indem sie dafür eine Sprache schafft. Sie hat auch gleich einen Gattungsbegriff kreiert: «Geländeroman». Und zwar in ausdrücklicher Absetzung von einem «lyrischen» Landschaftsbild, das in der Regel die Verbundenheit von Mensch und Natur evoziert.  Bei Kinsky existiert sie nicht. Vielmehr zeigt ihr literarisches Lapidarium gerade das Gegenteil: nicht die Reanimierung einer vermeintlich ursprünglichen Familiarität alles Lebenden, sondern die Relikte eines unaufhaltsamen Kahlschlags unserer Umwelten. Gerade diese Art von Nature Writing macht Verlusterfahrung lesbar. 

Es verschwinden nicht nur biologische Arten, es verschwinden auch linguistische Arten. Biodiversität heisst immer auch Sprachdiversität. Naturpflege ist Sprachpflege. Sprache ist fähig, zum Sehen zu verhelfen. Wie die Schriftstellerin Marion Poschmann – ebenfalls im Genre tätig - bemerkt, kann gerade die Literatur «den (nichtpekuniären) Wert der verschwindenden Lebens-räume, der verschwindenden Arten vor Augen führen». Zu dieser Wertschöpfung trägt die Wortschöpfung bei. Ökologie ist immer auch Ökopoesie. 







Samstag, 27. Januar 2024


NZZ, 24.1.24

Wildnis dank Technik

Unberührtheit der Natur ist ein antiquierter Wert

Der Mensch gefährdet Natur zunehmend, das ist altbekannt. Leicht prangert man dabei die Technik als Handlangerin an. Und das ist zu kurzsichtig. Die Frage stellt sich vielmehr, ob Technik auch zur Rettung der Natur beitragen kann. Etwa dadurch, dass man ihr durch automatische Systeme auf die Sprünge hilft. Gentechniker designen Bakterien, die Plastik abbauen. Oder Robotiker konstruieren künstliche Bienen – «Robobees» - , die mangels natürlicher das Bestäuben über-nehmen. 

Wie scheel man solche Bemühungen auch betrachtet, sie deuten den Horizont eines weit grösseren Unterfangens an. Umweltforscherinnen und -forscher der Universitäten Harvard und Maryland nennen es die «automatische Kuratierung von wilden Orten».  Sie schreiben: «Die Erhaltung von wilden Orten verlangt zunehmend intensive menschliche Interventionen (..) Könnte ein Deep-Learning-System die Autonomie nichtmenschlicher ökologischer Prozesse erhalten ohne direkte menschliche Einwirkung?» 

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Man spricht von computergestützter Nachhaltigkeit. Sie widerspricht unserem traditionellen öko-logischen Denken, das tief geprägt ist vom Gegensatz Technik-Natur. In der Antike unterschied man streng zwischen Menschengemachtem und Gewachsenem. Aber eigentlich sind Ökosysteme immer schon Komplexe aus Menschen, anderen Lebewesen und Technik. Man denke an Getreidefelder oder Forste. «Wilde» Natur ist eine Komponente dieses Komplexes. Wir erhalten sie, indem wir sie gestalten, also unsere besten Instrumente benutzen.

Und dazu gehören lernende Algorithmen. Sie werden heute schon vielfältig im «Nature Watching» eingesetzt. Zum Beispiel installiert die Organisation Rainforest Connection Sensoren als «Wächter des Waldes» in Nationalparks auf den Philippinen, in Indonesien und Costa Rica. Global Fishing Watch nutzt Satellitendaten in der Verfolgung und Verhinderung von illegaler Fischerei. Ohnehin betreibt man heute Tierbeobachtung in Echtzeit vermehrt aus externer Satellitenperspektive. Um den ganzen Globus spannt sich eine immer dichtere interaktive Technosphäre – die «Smart E-arth». Das Ausmass einer solchen technikgestützen Wildnis lässt sich nur erahnen. Die kanadische Umweltforscherin und Unternehmerin Karen Bakker spricht von einem «Internet der Erdlinge».   

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Hier bricht jedoch der latente Widerspruch auf. So wie der Erdling Mensch in der Ausbeutung der Natur die Hauptrolle spielt, so auch in ihrer Schonung. Wir müssen aufpassen, dass wir Schonung nicht wiederum anthropozentrisch verstehen, das heisst, unter der schützenden Hand des «Internets der Erdlinge» Natur nach wie vor primär als Ressource, als «Dienstleisterin» des  konsumierenden Lebensstandards betrachten.  Manifestiert sich nicht verdächtig genug die Tendenz, Umweltschutz als Schutz dieses Standards zu begreifen? Sind Smart-Earth-Technologien nicht die neuesten Ausgeburten eines digitalen Kapitalismus, der sich grüngewaschene Selbstabsolution erteilt? Wer beteiligt sich mehrheitlich an den Umweltdateninitiativen? Google, Micro-soft, IBM, Hewlett Packard, CISCO. Sie spielen schon in der allgegenwärtigen Überwachungstechnologie des Menschen eine (un)heimliche Vorreiterrolle. 

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Trotzdem: Eine «nachwilde» Natur schliesst die menschliche Intervention, also eine umsichtige, «sorgende» Öko-Technik auf einem sich erwärmenden Planeten ein. Die Betonung liegt auf «Um-sicht», einer Umwertung der Werte, in dreierlei Hinsicht. Erstens die Hinterfragung des «Muskismus», einer grössenwahnsinnigen Ideologie der Technik als Garantin haltlosen Wachstums «wie immer»;  zweitens eine Konzeption der Technik, die in ihr nicht – und dies seit der Antike – bloss  Zwang und Gewaltanwendung gegen die Natur sieht; drittens die Aufwertung eines alten Wildnisbegriffs: der natura naturans, einer «nicht gebauten», einer schaffenden, nur partiell kontrollierbaren Natur. 

Bruno Latour, der französische Philosoph und Gaia-Hohepriester, sprach von einem «Parlament der Dinge», in dem neben menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen auch Artefakte ihre Stimme einbringen können. Statt einer solch überkandidelten Vision meint Umsicht nüchtern den Appell: Lerne endlich die «Wildheit» der Natur, der anderen Erdlinge kennen! Sie können ohne uns leben, und sie haben ihre eigene kognitive Ausstattung, um zu überleben. Vielleicht eine bessere als der Mensch, dieses «exzentrische» Tier. Wir wissen viel zu wenig, was für unbekannte Unbekannte in dieser «Wildheit» stecken. 

Ohnehin wird sich im Anthropozän die menschliche Intervention noch deutlicher als das erweisen, was sie schon immer war: ein Hasardspiel. Die Evolution ist Meisterin dieses Spiels – und sie lacht immer zuletzt. 









Montag, 25. Dezember 2023



Warum zum Geier ist das Bewusstsein 

ein «hartes» Problem?

Was ist Bewusstsein? Vor 25 Jahren stritten sich der Neurowissenschaftler Christof Koch und der Philosoph David Chalmers über diese Frage. Koch vertrat die These, dass das Phänomen des Bewussteins auf der Basis neurophysiologischer Vorgänge erklärbar sei. Dagegen erhob der damals kaum bekannte Chalmers den kecken Einwand, dass der neurophysiologische Kenntnisstand allein, und mag er noch so hoch sein, nicht erklären könne, wie Bewusstsein aus Gehirnprozesses «auftaucht». Und er prägte einen mittlerweile notorischen Begriff für diese Unzuläng-ichkeit: das «harte Problem» des Bewussteins. Koch ging mit Chalmers eine Wette ein: Im Jahre 2023 würde man ein neuronales Muster entdeckt haben, von dem aus man auf bewusstes Verhalten schliessen könne. Wettgewinn: Eine Kiste Wein. Chalmers erhielt sie im Juni 2023. 

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Zwischen Gehirn und Gedanken geschieht etwas Rätselhaftes. Man spricht von «Emergenz». Ein System besteht aus Elementen. Diese haben eine Reihe von Eigenschaften. Im Systemganzen «emergiert» eine neue Eigenschaft, die auf dem Niveau der Elemente nicht zu finden ist. Ein Wassermolekül ist nicht nass, Wasser ist nass. Neuronen sind nicht bewusst, ein aktives Netz von Neuronen ist bewusst. Wie erfolgt der Übergang von der Nicht-Nässe zur Nässe, vom Nicht-Bewussten zum Bewussten?

In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat sich der Emergenzbegriff als Hoffnungsträger in der Erklärung vieler komplexer Phänomene eingebracht, von der Physik und Chemie, über Biologie und Neurowissenschaft bis zur Soziologie und KI-Forschung. Als Problem erweist sich allerdings gerade das explikative Vermögen des Begriffs. «Bewusstsein emergiert aus neuronalen Prozessen»  beschreibt eine Beobachtung, liefert keine Erklärung. Wenn man mein Gehirn an einer bestimmten Stelle reizt, dann empfinde ich bewusst Schmerzen. Emergieren sie aus dem komplexen Orchester - dem Konnektom - von Neuronen? Von welchem Komplexitätsgrad an? Welches spezielle Wechselspiel findet zwischen den Neuronen statt? Welche Umweltbedingungen müssen dabei herrschen? Solche Fragen münden in einen einzigen Verdacht: Emergenz ist das Problem, das sich als Erklärung ausgibt. 

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Heute machen sich neurokybernetische Modelle anheischig, das harte Problem zu «lösen». In der Diskussion steht gegenwärtig die «integrierte Informationstheorie (IIT)» von Christoph Koch und dem Neuropsychologen Guido Tononi. Die Grundidee ist nicht neu, sie stammt aus der Gestaltpsychologie vor über hundert Jahren. Als bewusste Wesen sind wir fähig, eine Vielzahl von Eindrücken zu unterscheiden und doch nehmen wir in ihnen etwas als gestalthaftes Ganzes wahr. Ein Smartphone kann eine gewaltige Pixelmenge speichern und in der darin enthaltenen Information Unterscheidungen vornehmen. Das aber macht kein «bewusst» wahrnehmendes Smartphone aus. Die Pixel müssten vielmehr miteinander verknüpft, zu Mustern «integriert» sein. Bewusstseinszustände hängen, so die These, von der Dichte an differenzierter und integrierter Information einer beliebigen Netzstruktur ab. Tononis Theorie definiert eine mathematische Masszahl für diese Dichte, in Bits. Er bezeichnet sie als «Phi» (Φ). 

Es gibt also, genau gesagt, in der Sicht der IIT graduelle Bewusstheit. Phi misst, wie viel integrierte – und damit bewusste – Information ein Netzwerk enthält, sei es nun organisch, anorganisch oder künstlich. Im Besonderen spielt Tononi mit der Idee eines «Phi-Meters». Angenommen, er misst bei meinem Smartphone einen spezifischen Phi-Wert. Hat das Smartphone nun ein Bewusstsein? Ach woher, es hat bloss einen Integriertheitsgrad Phi. Der Zusammenhang zwischen Phi-Wert und Bewusstsein wird einfach willkürlich stipuliert, nicht erklärt. Begriffszauber. In einem offenen Brief bezeichneten kürzlich hundert Bewusstseinsforscher die IIT als «Pseudowissenschaft».  

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Das Gehirn ist ein Stück Materie, und Materie unterliegt den Gesetzen der Quantenphysik. Vom Anästhesiologen Stuart Hameroff und dem Physiker Roger Penrose stammt eine Quantentheorie des Bewusstseins. Hameroff vermutet, dass Bewusstsein aus so genannten Mikrotubuli emergiert: Proteinfäden, die innerhalb der Nervenzellen als molekulare Informationsübermittler fun-gieren. Sie sind genügend klein, um einen typischen Quanteneffekt zu zeigen. Die Einzelzustände vieler Mikrotubuli überlagern sich zu einem kohärenten Gesamtzustand, einer sogenannten Superposition. Sie speichert Quanteninformation: Qbits. Sie ist aber instabil. Wenn uns etwas bewusst wird, bedeutet dies, dass auf der Quantenebene des Gehirns eine Superposition von Mikrotubuli zerfällt. Man spricht heute von Dekohärenz der Quanteninformation. 

Eine theoretische Luftnummer, sagen nicht wenige. Erstens ist unklar, ob Mikrotubuli eine zentrale Rolle in Bewusstseinsvorgängen spielen. Zweitens beruft sich Penrose auf eine «modifizierte» neue Quantentheorie der Gravitation, welche die Dekohärenz erklären würde: die «orchestrierte objektive Reduktion». Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Physiker alles andere als «orchestriert» sind über eine Quantentheorie der Gravitation. Das Ganze erinnert an Alchemie: die Erklärung von etwas Unbekanntem durch etwas Unbekannteres.

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Gewiss, das Bewusstsein ist auch ein Naturphänomen, es hat «etwas zu tun» mit Gehirnvorgängen. Und die Neurobiologie gewährt uns immer mehr Einblicke. Freilich auch immer mehr Puzzleteile, die das harte Problem noch härter erscheinen lassen.    Ein Teilnehmer der Konferenz über Bewusstseinsforschung 2019 in Interlaken brachte es auf den Punkt: «Theorien über das Bewusstsein sind wie Zahnbürsten. Jeder hat eine, und keiner will diejenige des anderen verwenden». 

Wie emergiert Bewusstsein aus dem Gehirn? Vielleicht ist die Frage falsch gestellt, zu neurozentrisch. Vielleicht sollten wir einfach die Perspektive wechseln: vom Gehirn zum Gehirnbenutzer und seinen bewussten Erfahrungen in seiner spezifischen Umwelt. Die meisten haben überhaupt kein Problem mit dem Bewusstsein, weil sie es «von innen» erfahren – als empfindungsfähige Personen – und nicht «von aussen»: in der Perspektive des Gehirns, der Physik, der Emergenz oder wessen auch immer. 

Nicht das Gehirn ist das Primäre, sondern dessen Benutzer. Wenn wir den Neurozentrismus durch diese andere Perspektive ergänzen, könnte sich das harte Problem als die alte Fabel vom Wettrennen zwischen Hase und Igel erweisen. Der Igel Bewusstsein lacht sich ins Fäustchen: Rennt ihr neurowissenschaftlichen Hasen nur Runde um Runde mit euren Theorien, ich bin schon am Ziel. Auch in weiteren 25 Jahren. 





  Der «Verzehr» des Partners Kant und der aufgeklärte Geschlechtsverkehr Kant zeigte philosophisches Interesse nicht nur an Vernunft und Urt...